Geschichte 7
Rettet Design Thinking die Welt?
Warum dieses Projektmanagement-Tool ein wertvoller Ansatz ist, zwischen Kreativen und Ökonomen zu verhandeln. Warum es aber auch nicht mehr ist
Mit der großen Immobilienkrise 2008 kam die große Sinnkrise. Auch bei mir. London war plötzlich verbrannt als Markt, auch für Fotografen wie mich. Kam also zurück nach Berlin, machte mich ganz klein und war froh, nicht wie viele KollegInnen hier teure Studiomietverträge oder unbarmherzige Kredite auf Technikequipment laufen zu haben. Das schenkte mir nun die Freiheit, auf anderen Feldern zu grasen.
Ein Radiobeitrag machte mich neugierig auf eine Veranstaltung, bei der es um neue innerstädtische Verkehrskonzepte gehen sollte. In Erwartung eines spannenden Vortrags landete ich schliesslich mitten in einem Rechercheworkshop des ersten Berliner Coworking-Spaces. Hier im Betahaus gab es neben den gemeinsamen Büroarbeitsplätzen einen chaotisch unorganisierten Raum, der aufgrund seiner Lage über einer lärmenden Druckerei jenen Kreativen vorbehalten war, die Co-Working tatsächlich wortwörtlich nahmen.
Unversehens wurde ich Projekt-Tagesmitglied einer Gruppe, die so wilde Phantasien wie Fahrradstraßen, Citymaut für PKWs, Carsharing und andere Utopien zu einem anschaulichen Prototypen bastelte. Wie kühn! Und wie seltsam mit dem heutigen Blick darauf zu schauen, wo doch viele dieser Lösungen längst Alltag in unseren Städten sind.
Ich war angefixt – von den Leuten hier und dem eigentümlichen Raum, der sich ‚Open Design City‘ nannte. Und ganz besonders von Jay, einer augenscheinlich zentralen Figur, die mal höchst interessiert und dann auch wieder dreist teilnahmenslos den Workshop irgendwie doch verantwortlich begleitete. „Was für ein ignoranter Idiot“ dachte ich zuerst. Bis ich bemerkte, dass Jay stets aufmerksam war und auch wieder präsent, wenn es für ihn einen Grund dazu gab. Erst viel später habe ich begriffen, dass es völlig legitim sein kann, sein Desinteresse an einer Sache genauso ehrlich zu zeigen wie sein Interesse.
Dies war meine erste Begegnung mit Design Thinking.
Mich zog es immer wieder hin in diesen Raum, ohne zu wissen warum. Als ich Jay eines Tages von dieser Magie erzählte, sagte er nur: „Kay, du wirst deinen Platz hier schon finden.“ Und ich fand ihn auch. Denn hier versammelten sich tatsächlich neugierige Menschen aller Disziplinen, ganz unverbindlich, aber alle mit spannenden Ideen: DesignerInnen, IT’ler, JournalistInnen, HandwerkerInnen, (Aktions-)KünstlerInnen, SchauspielerInnen, Startups usw. usf.
Und eine zu dieser Zeit ganz neue Spezies, die sich selbst ‚Maker‘ nannten. Dazu zählte sich auch der studierte Designer Jay. Er träumte von einem ‚Makerlab‘ und machte sich daran, diese Begrifflichkeit in die Welt zu pflanzen. Heute gibt es überall auf der Welt Makerlabs.
Gemeinsam warfen wir alle unsere kühnsten Ideen in eine große Schale und schauten uns dann selbst mit kindlicher Neugier dabei zu, wie erst zarte und dann immer greifbarere Pflänzchen daraus wurden. Beschäftigten uns mit dem Stadtraum als Lebensraum, mit Urban Gardening und neuen Formen des Lernens und Lehrens. Veranstalteten Workshops, Parties, Ausstellungen und Festivals, welche immer weitere bunte Vögel in unseren Bann zogen. Bald war ich selbst so etwas wie ein Pressesprecher der Open Design City, die nach aussen hin noch immer den Charme eines kreativen Chaos versprühte. Führte regelmäßig Medienvertreter und ganze Studiengruppen internationaler Universitäten durch unseren unberechenbaren Kosmos. Ohne es zu planen hatten wir einen hierarchiefreien Arbeitsraum erschaffen, der uns maximale Entfaltungsfreiheit bot und auch Kooperationen mit großen Unternehmen, deren Innovationsabteilungen, Think-Tanks und Stiftungen. Jedes unserer unverbindlich assozierten Mitglieder schützte auf ganz eigene Art diesen Raum – obwohl er die gesamte Zeit über offen für alle stand, wurde niemals etwas vom wertvollen Equipment gestohlen. Ganz im Gegenteil – es kamen ständig noch weitere Geräte wie Lasercutter oder 3-d-Drucker hinzu, um die Möglichkeiten der Gemeinschaft zu erweitern.
Für mich war das die echte Universität meines Lebens, die ich zuvor so schmerzlich an der echten Uni vermisst hatte. Ich inhalierte den Geist von echter Liquid Leadership und verschaffte mir damit Einsichten und Fähigkeiten, die mich bis heute tragen.
Höhepunkt dieser Entwicklung war unsere hauptverantwortliche lokale Programmgestaltung für das BMW-Guggenheim-Lab, eines reisenden Innovations- und Recherchelabors, das auch in Berlin für einige Wochen Halt machte und für uns zu einem Schaufenster all unserer Ideen, Vernetzungen und Ergebnisse wurde.
Die zunehmende Kommerzialisierung Berlins machte es aber auch höchst attraktiv, solch grundnatürliche Gestaltungs- und Innovationskenntnisse in wirtschaftlich lohnende Consulting-Stukturen zu formen. Was schliesslich dazu führte, dass die Open Design City zerbrach, in eine Hälfte von mehr oder oft weniger erfolgreichen Startups – und in diejenigen, die nun flügge geworden unsere eigentlichen Innovationssamen mit ihren ganz persönlichen Projekten in alle Welt trugen. Wenn man ganz genau hinschaut im Universum, dann kann man sie tatsächlich hier und dort blühen sehen.
Weil uns Design-Thinking als Projektmanagement-Methode all die Jahre so treu begleitet hatte, war’s nun Zeit, mir das mal genauer anzuschauen. War sie für mich vor allem ein verdammt nützliches Tool um die Sprachlosigkeit zwischen Kreativen und der Wirtschaft zu überbrücken, so behaupteten sowohl Universitäten als auch zahlreiche kommerzielle Design-Thinking-Agenturen, sie wäre das nächste Level der Unternehmensberatung. Und bauten hierfür ein Gerüst aus konventionellen Handlungsanweisungen, wie sie auch in anderen Bereichen existieren. Mit Einzelfall-Simulationen, die sie ‚user-centered Persona‘ nannten, wollten sie allen Ernstes neue und unentdeckte Erlebnisräume schaffen. Ãœbersahen dabei aber, wie schnell das alles in Klischees und einen methodischen Tunnelblick abrutschte, der jede Kreativität irgendwann erwürgte. Die Ownership über die Methode war wichtiger geworden als deren Idee. Und Kritik unerwünscht.
Damit kastrierten die Protagonisten diesen spannenden Ansatz ausgerechnet um jene Eigenschaft, die ihn so aussergewöhnlich und wertvoll gemacht hatte. Bis zur Unkenntlichkeit.
Ein Beispiel: als Spezialist für die Dokumentation von Innovationsprozessen erhielt ich den Auftrag, die Managerschulung eines weltweit tätigen Versicherungsunternehmens zu covern. Neben der fotografischen Begleitung der Workshoprunden war für die Pausen eine Foto- und Interviewbox geplant, in der ich Bilder und Stimmen zum inhaltlichen Verlauf der einzelnen Sessions sammeln sollte. Um sie später im Kreise der Teilnehmer auswerten zu können und daraus Handlungsoptionen zu erarbeiten. Eine wahrlich grandiose Idee.
Was aber dann passierte, war beispielgebend für den Niedergang von Design-Thinking: die Interviewbox funktionierte weit besser als von den Workshopveranstaltern erwartet. Denn ich nahm meinen Job wirklich ernst und sicherte allen Teilnehmern zu, dass nichts von dem Gesagten den Kreis der Workshoprunde verlassen würde. Was diese zu einer erfrischenden Offenheit zur Veränderung inspirierte, womöglich zum ersten Mal in ihrer straff geplanten Karriere. Als die Veranstalter dies realisierten, bekamen sie es mit der Angst vorm eigenen Mut und dem möglichen Zorn der Versicherung zu tun und untersagten mir weitere Interviews.
Was ist ein Innovationsprozess wert, der echte Veränderung gerade dort wo’s wehtut aus Furcht unterbindet? Diese Frage liess mich seitdem nicht mehr los. Und machte mich konsequenter denn je.
Mit einem Team aus anderen Kritikern entwickelte ich anschliessend ein umfassendes Dokumentations-Setting, mit dem sich parallele Veranstaltungen wie Barcamps oder World-Cafe-Runden mittels Audioaufzeichnung, Mitschrift und Graphic Recording lückenlos aufzeichnen und anschliessend mit überschaubarem Aufwand auf einer Website darstellen lassen. Sozusagen als ungekürzte 1:1-Wiedergabe echter Werdungsprozesse.
Und ich wurde kurz darauf Teil eines spannenden Coaching-Projekts für eine Berliner Privatuniversität, die aufgrund interner Spannungen kurz vorm Zerreissen war. Hier testeten wir mit grossem Erfolg zum ersten Mal jene offene Interviewkultur, die mir beim Versicherungsworkshop verwehrt geblieben war. Wie das genau abgelaufen ist, lässt sich im Projektbeispiel 09 – „GoodGovernance-ImmerNurFürAndere?“ nachlesen.
Was bleibt?
Während die Design-Thinking-Agenturen ihre vergnügungsbereite Schulungsklientel noch eine Weile weiter sanft bespielte, entwickelte ich währenddessen für mich drei Grundsätze, die auch ohne methodischen Überbau bestens funktionieren:
- Keine Simulation ohne echten Bezug zur Realität aller(!) TeilnehmerInnen. Am Liebsten thematisiere ich sogar direkt deren laufende Projekte und Prozesse, um ein Abgleiten in Klischees und eine Entkoppelung vom Kern des Themas zu verhindern.
- Ein kreativer Prozess braucht keine starren methodischen Abläufe, eher im Gegenteil. Was er braucht, sind gut geschulte Workshopleiter mit wachem Auge, echtem Interesse fürs Thema, einer höchst vertrauensstiftenden Agenda und der Bereitschaft, ihre eigenen Skills stets weiter zu entwickeln. Im besten Fall entsteht echte Augenhöhe darin, dass sich Lehren und Lernen ineinander auflösen. Ich weiss, das klingt in manchen Ohren radikal – aber es funktioniert.
- Gruppenveranstaltungen wie Workshops oder Seminare folgen selten demokratischen Regeln. Denn Talent, Gefühl und Lebenserfahrung sind unterschiedlich gewichtet und verteilt. Individuelle Beiträge und Redeanteile benötigen als Basis Freiheit, Vertrauen, Augenhöhe und auch das Recht, dauerhaft zu schweigen und sich anderweitig konstruktiv zu beschäftigen. Je starrer die Struktur, desto weniger Bewegung. Meine Aufgabe als Facilitator ist es, diese Basis zu schaffen, sie falls nötig zu verteidigen und gestaltende Gleichgewichte herzustellen. Das ist schon viel Arbeit und verlangt vollste Konzentration. Alles andere passiert dann von selbst.