Geschichte 4
Neue Arbeitsformen für ein altes Problem?
Wie ein gut gemeintes UNICEF-Forschungsprojekt zum interkulturellen Lehrstück wurde
Irgendwann hatte ich entschieden, dass ich nicht mehr nur als Besucher nach Myanmar kommen wollte. Meine Neugier auf das Land meiner Großeltern und auch die Vertrautheit mit Gebräuchen, dem Essen und den Menschen war mittlerweile so gewachsen, dass ich in mein erstes Projekt dort quasi reinruschte. Es war noch zur Zeit der alten Militärregierung, als die Menschen neidisch auf die rasante wirtschaftliche Entwicklung der südostasiatischen Nachbarn schauten und es abzusehen war, dass sich auch das frühere Burma entsprechend öffnen müsse.
Zu dieser Zeit basierte das Wirtschaftssystem dort noch auf einem seltsam anmutenden Tauschhandel: aufgrund der latenten Devisenknappheit durften Rohstoffe und Konsumgüter durch Privatunternehmen nur eingeführt werden, wenn diese auch einen entsprechenden Export vorweisen konnten. Da die myanmarischen UnternehmerInnen amerikanische Dollars offiziell nicht selbst halten durften, verdienten sich die Banken in Singapur eine goldene Nase an ausgelagerten Devisen-Tauschkonten. Eine Zeitlang gab es sogar einen internen myanmarischen Dollar (FEC = Foreign Exchange Certificate), der als Ersatzwährung via Zwangsumtausch sogar alle Tourismusdevisen gleich an der Grenze abschöpfen sollte.
Der Tauschhandel funktionierte so: wenn ich Markenprodukte wie Cola oder Konsumelektronik importieren wollte, musste ich zunächst erst einmal genügend Hülsenfrüchte, Teakholz oder andere Güter ausgeführt haben, um auf des benötigte Guthaben in echten amerikanischen Dollars zu kommen. Diese Praxis führte dazu, dass alle Myanmarischen Unternehmen in mindestens zwei meistens völlig unterschiedlichen Branchen agierten und dem Missbrauch der Strukturen Tür und Tor geöffnet war. Denn entlang dieses oft mühsamen Weges gab es natürlich unzählige Möglichkeiten für alle beteiligten Akteure, die Hand aufzuhalten. Korruption wurde so zu einer unverzichtbaren Haupteinnahmequelle gerade für Menschen in den unteren Rängen des Systems. Was wiederum dazu führte, dass ich mit der Zeit sogar ein gewisses Verständnis dafür aufbrachte, wenn Leute mit Handaufhalten den abendlichen Tisch ihrer Familie deckten.
So sass ich also mit meiner Tante Esther, welche aufgrund der Lasterhaftigkeit meines Großvaters genausoalt ist wie ich, in den lauen Heisszeitnächten auf der kühlenden Motorhaube des familieneigenen Toyota Corolla – uns wir tauschten uns aus über die Eigenheiten unserer so unterschiedlichen Herkunftswelten. Irgendwann stellte mich Esther ihrer Chefin vor – einer eingewanderten Singapurianerin, deren hauptsächliches Geschäft darin bestand, damalige Boykottwaren der Kosmetikindustrie per Schiff ins Land zu bringen. Nebenbei betrieb die umtriebige Geschäftsfrau auch noch ein Restaurant und ein Spa. Und da nichts ihrer Geschäfte inhaltlich wie ästhetisch internationalen Standards genügte, beauftragte sie mich, ihre Unternehmen dementsprechend zu beraten. Nach kurzer Zeit ging ich also ein und aus in ihren Läden, schulte Mitarbeiter im damals aufkommenden Webdesign, suchte ihnen die hierfür notwendige technische Ausstattung und brachte das Interieur von Spa und Restaurant auf Vordermann.
In diesem Jahr wurde Lauren Weisgerbers Roman ‚Der Teufel trägt Prada‘ mit Anne Hathaway verfilmt – und das Verhalten der Patronin aus Singapur erinnerte mich von Tag zu Tag mehr an die von … brilliant verkörperte herrschsüchtige Chefredakteurin. Dies erzählte ich meiner Tante Esther, die es wohl wiederum weitererzählte.
Zur feierlichen Neueröffnung des Restaurants hatte mein Onkel, der Ehemann von Esther, tatsächlich auf irgendeinem Schwarzmarkt die chinesische Raubkopie dieses Films aufgetrieben und ganz dreist auf der neu installierten Leinwand gescreent. Darüber wurde nun getuschelt und gescherzt, bis auch die Chefin selbst Wind davon bekam und mich, ihren Berater, mit ernsthafter Miene fragte: „Bin ich tatsächlich so schlimm wie diese Person?“
Mein Versuch, mit diplomatischen Floskeln das Unübersehbare zu verschleichern konnte nur schiefgehen. Von diesem Tage an würdigte sie mich keines Blickes mehr, unternahm aber auch keine weiteren Versuche, mich in ihr perfides Machtsystem einzubinden und liess mich stattdessen in Ruhe meine Arbeit beenden. Erst Monate später, als ich bereits zurück in Deutschland war und die ersten Ergebnisse meiner Arbeit begannen Früchte zu tragen, erhielt ich eine Bitte von ihr, doch bald wieder zurückzukehren.
Nach dieser Lehrstunde war mir klar, dass hier noch mehr gehen müsse. Mit meiner gesammelten Unternehmungslust erklärte ich meiner myanmarischen Familie, dass ich vorhätte, mich tatsächlich weiter im Land zu engagieren und bat sie um entsprechende Unterstützung. Und stürzte mich ins Innovationstreiben des gerade beginnenden demokratischen Aufbruchs. Eines Abends, nachdem sie mich im staatlichen Fernsehen auf einer Veranstaltung der örtlichen Handelskammer mit dem Microfinance-Star (und heutigen Präsidenten Bangladeschs) Mohamed Yunus entdeckt hatten, war meine Familie mit ihrer Geduld am Ende. Es wäre für sie ok, wenn ich als Tourist oder Besucher käme. Dass ich mich in Geschäfte einmischen wolle und ganz allgemein zu neugierig sei, das wäre gefährlich für alle und ginge eindeutig zu weit. Schliesslich sei das hier nicht mein Land.
Und wenn ich das nächste Mal wieder nach Myanmar käme, solle ich doch besser bei meinen Freunden übernachten.
Meine eigene Familie hatte mich ausgeladen. Ein echter Affront, in der stark familienorientierten buddhistischen Gesellschaft.
Zur gleichen Zeit erhielt ich aber eine Einladung eines Teil meiner Familie, der eng genommen gar nicht meine Familie ist. Denn meine Großmutter hatte zu Lebzeiten sogenannte ‚Adopted Daughters‘ – arme Mädchen vom Lande, die für Essen und einen Schlafplatz am Rande der Küche rund um die Uhr für sie im Haushalt tätig waren. Eines dieser Mädchen hatte die Chance dieser grausamen Realität genutzt und einen Mann gehobener Kreise geheiratet, der nun hauptverantwortlich war für die neuen myanmarischen Abschnitt der ‚Asian Highway‘-Autobahn zwischer der indischen und der thailändischen Grenze.
Sie luden mich in die zweitgrößte Metropole Mandalay ein, weil sie von meinen Bemühungen gehört hatten. Der mir völlig unbekannte ‚Onkel‘ führte mich dann in die Finessen der Strassenbauplanung ein, brachte mich mit seinem Geländewagen an die entlegensten Orte des Landes und wir diskutierten wochenlang über jene Herausforderungen, die Myanmar nun zu bestehen habe. Niemals zuvor lernte ich so viel über das Land meiner Vorfahren. Es war grandios.
(Weitere Einblicke hierzu siehe auch ‚Projektbeispiel 04 – Aufbau einer Deutschklasse für künftige Fachkräfte‘ und ‚Projektbeispiel 08 – Mit Kolonialisten reden wir nicht‘)
Meine Kontakte in Yangon vermittelten mir ein Innovations-Projekt, dass sich genau um jene ‚Adopted Daughters‘ drehte, welche ich aus meiner eigenen Familie so gut kannte. Eine amerikanische Nichtregierungsorganisation (NGO) hatte bereits ein sehr gut laufendes Design-Thinking-Programm zur Schulung von Sozialarbeiterinnen aufgebaut, welches nun von UNICEF evaluiert wurde. Man wollte schauen, ob sich die Durchlaufrate von knapp 100 Ausbildungen pro Jahr mit den modernen medialen Mitteln von Virtual und Augmented Reality womöglich künftig hochskalieren liess. Denn der Bedarf an Unterstützungsleistungen für in myanmarischen Haushalten sowohl physisch als auch sexuell missbrauchten jungen Mädchen war und ist noch immer riesig. Kurzerhand hatte man daher erfahrene ältere Mütter aus der Verwaltung dafür begeistern können, sich mittels Fortbildung sozialpädagogische wie auch juristische Fachkenntnisse anzueignen und diesen Mädchen hiermit beizustehen.
Mit diesem Forschungsvorhaben direkt an der Basis wurde ich beauftragt. Ich handelte ein auskömmliches frei verfügbares Budget aus und setzte zur Bedingung, dass das weitere Projektteam ausschliesslich aus Einheimischen besteht.
So fuhren wir mit seinerzeit hochinnovativen 360-Grad-Kameras in abgelegene Dörfer und führten Interviews mit den weiblichen Opfern. Ich hatte diesen Ansatz gewählt, um das Ausmass dieses Problems überhaupt begreifen zu können, das eigentliche Anliegen niemals aus den Augen zu verlieren und grundlegende Erkenntnisse darüber zu sammeln, welcher Elemente es bedürfe, Ausbildungsprozesse für Sozialarbeiterinnen künftig medial zu automatisieren. Damit hatte dieses Projekt sowohl eine sehr zukunftsorientierte, aber auch eine ausgesprochen bodenständige Komponente. Dass auch interkulturelle und technologische Aspekte eine noch viel entscheidendere Rolle spielen sollten, wurde mir erst viel später klar.
Denn unsere Idee war es ja, einen interaktiven virtuellen Raum auszukundschaften, in dem Bildung stattfinden könnte. Wie könnte man diesen Raum erschaffen, bei einer solch hochsensiblen Thematik? Authentisch, respektvoll und nutzerorientiert?
Während der Interviews zeigten sich schnell drei echte Herausforderungen: da die Aufnahme ja den kompletten Raum abdeckte und unser Team keinesfalls Bestandteil der Aufnahme sein sollte, mussten wir die Settings immer so gestalten, dass sich das Trio aus Übersetzerin, Projektassistenz und mir hinter aufgehängter Wäsche, in anderen Räumen oder unter Möbelstücken verstecken konnten. Und was noch viel herausfordernder war: ein Interview mit einem traumatisierten Opfer zu führen, ohne mit diesem Augenkontakt halten zu können und noch dazu in unterschiedlichsten Regionalsprachen mit Übersetzerin, stellte sich als wirklich anspruchsvoll heraus. Zudem musste das technische Setup komplett autark auskommen, da keines der Dörfer am Stromnetz angeschlossen war. Letztlich betrieben wir im zehnminütigem Wechsel dann auch zwei 360-Grad-Kameras, weil die tropische Hitze den Geräten arg zu schaffen machte.
Innerhalb von wenigen Wochen baute unser Team eine derart ausgefeilte interkulturelle Kompetenz auf, dass auch unsere Rechercheergebnisse immer besser, respektvoller und präziser wurden. Ich habe seitdem kein Projekt mehr gehabt, dass so intensiv und kompakt Einblicke in Räume gewährte, die sonst verschlossen bleiben.
Leider war zum Abschluss unseres Projekts die UNICEF-Innovationsabteilung tournusmässig schon wieder ins nächste Land weiter gezogen und auch deren restliche NGO-Mannschaft in Yangon fast komplett ausgetauscht worden. Unter dem Motto ‚better kill the other babies‘ war das Interesse am Thema komplett erloschen und meine obligatorische Projektpräsentation versank in den internen Rangeleien meiner Auftraggeber.
Was bleibt?
Alles was unser gesamtes Team daraus gelernt hat, das kann uns keiner mehr nehmen. Egal wie der Auftrag zuvor lautete.