Geschichte 9

Mit Kolonialisten reden wir nicht!

Warum Entwicklungshilfe wechselseitig ist. Und alle davon profitieren können

Tinder ist nicht nur für Dating gut. Auf Reisen, besonders an Orten mit vielen Expats gewinnt man mit dieser App auch schnell Kontakte zu anderen Ausländern der westlichen Hemisphäre. Sofern man denn will.

So treffe ich auch auf Ronja. Bin mit ihr und ihrer Freundin in Yangon, dem alten Rangoon zum Essen verabredet. Während wir in einem hippen Laden chinesische Leckereien probieren, erzählen mir die beiden von ihren Volunteering-Jobs hier in Myanmar. Naja nicht ganz ehrenamtlich, denn über ihre durch EU-Gelder fürstlich ausstaffierten Jugend-Demokratienetzwerke haben sie sich an lokale NGOs vermitteln lassen, um dort gegen branchenunübliches kleineres Entgelt direkt an der Basis Gutes zu tun. Soweit die Theorie.

Wer genauer hinschaut, wird schnell erkennen, wie sehr sich in dieser wohlhabenden Blase alles um sich selbst dreht – und dahin gerät auch unser gemeinsames Gespräch. Muss zugeben, in solchen Situationen steigt Ärger in mir auf. Menschen aus meinem Deutschland erzählen mir, wie wir unsere Privilegien darin auskosten, höchstdotiert anderen Kulturen vorzurechnen, wie sie ein wenig abhaben könnten von unserem Kuchen. Ernsthaft? Ernsthaft. Ja so funktioniert Entwicklungshilfe, in den allermeisten Fällen.

Mein Ärger braucht Luft – und freundlich erkläre ich den beiden jungen Frauen, dass dieses Land Myanmar mittlerweile auch ein wenig mein Land ist, wegen meiner Famile hier, meinen Freunden, meinen Erfahrungen. Und weil ich hier regelmässig lebe und arbeite. Und dass viele Menschen in meinem Familien- und Freundeskreis der Auffassung sind, dass neue Privilegienbotschafter besser nach Hause gehen sollten, statt den Unsinn ihrer Vorgänger fortzuführen.

Ronjas Freundin ist beleidigt und wendet sich demonstrativ anderen Privilegien-Expats zu. Ronja selbst ist getroffen. Bevor ich aufbreche, unterbreite ich ihr noch einen kühnen Vorschlag: würde morgen früh mit einem rumpeligen Zug in die staubige Kleinstadt Pyay aufbrechen, und wenn sie wolle, könne sie mich dorthin begleiten. Um das Land wirklich kennen zu lernen.

Zwei Stunden später ihre Nachricht über Tinder: „Wo soll ich morgen früh hinkommen?“

Die Zugfahrt ist heiß, die Zugfahrt ist wegen der verbogenen Schienen holprig und unbequem. Da gerade Wasserfest ist zum burmesischen Neujahr, werden wir an jedem Bahnhof mit abgestandenen Wasserschwaden überschüttet. Und weil die Realität meistens komplexer ist als alle alten und überlieferten exotischen Träume, geraten auch unsere Gespräche über die zumeist traurigen Epochen myanmarischer Geschichte immer weiter und weiter zum emotionalen Desaster. Wie Fremdkörper sitzen wir auf den schwankenden und hüpfenden Holzbänken, wischen uns wahlweise erregt, traurig oder ermattet die Tränen aus den Augen und sind ein phantastisches Schauspiel für alle anderen Reisenden im Zug, die in ihrer Kultur solche emotionalen Ausbrüche niemals öffentlich leben würden.

Angekommen in der Geburtsstadt meiner Großmutter lichtet sich der schwere Schleier und wir tauchen gemeinsam ein in Alltag und Kultur meiner Famile. Rona scheint inzwischen Gefallen gefunden zu haben an diesem Ansatz, und ich bin ehrlich beeindruckt davon. Nach unserer Rückkehr nach Yangon beschliesse ich, sie auf einem anstehenden Recherchetrip für ihre lokale NGO zu begleiten. Es geht ins bergige Chinland, der einzigen Region Myanmars, die überwiegend von Christen bewohnt wird. Weil ich sowieso dort zu tun habe, fahre ich im Schlepptau eines anderen Teils meiner Familie schonmal voraus und schaue, wie der lokale NGO-Stützpunkt dort aufgestellt ist. Es ist ernüchternd: kaum Ressourcen, vom internationalen Geldstrom kommt selbst in der Provinzhauptstadt nichts mehr an, alle kämpfen täglich ums würdige Auskommen. Zudem sind die Strassen dorthin so abenteuerlich, dass ich Ronja rate, nicht mit dem Bus anzureisen und besser einen Jeep zu mieten.

Sie fährt mit ihrer Gruppe dennoch Bus, und wird auf dieser Fahrt ihr erstes Testament und ihren ersten Abschiedsbrief an ihre Mutter geschrieben haben. Kreidebleich klettern sie, ein hochgewachsener rotschöpfiger Engländer, eine zierliche Großstadtburmesin und ein weiterer Mitarbeiter aus dem staubigen Fahrzeug. Der Engländer ist Ronjas neuer Chef und erst seit ein paar Tagen im Land. Angeheuert von der lokalen NGO, um diese international anschlussfähig zu machen. Als Gast der Veranstaltung halte ich mich diskret im Hintergrund, obwohl ich mit der lokalen Truppe vor Ort schon längst auf Du und Du bin. Höchst motiviert legt der Engländer los und lässt sich nur dadurch bremsen, dass seine weitschweifigen Ausführungen immer erst ins Burmesische übersetzt werden müssen. Obwohl meine hiesigen Sprachkenntnisse sehr beschränkt sind, fällt mir auf, dass die zierliche Burmesin recht selektiv übersetzt. Jeden einzelnen tölpelartigen Affront des Engländers versucht sie geschickt auszulassen, um die übrigen Anwesenden nicht unnötig zu verschrecken. Bereits nach einem halben Tag Workshop sprechen die Locals nicht mehr mit dem Engländer – sondern nur noch mit Ronja und mir. Thema sind die sanitäre und gesundheitliche Lage der Region – es soll im Auftrag der Vereinten Nationen ein Fragenkatalog zur Bestandsaufnahme entwickelt werden. Etwas ratlos lässt mich der Leiter des örtlichen Büros wissen, dass alle unsere vorbereiteten Fragestellungen völlig an der Lebensrealität der Menschen vorbei gingen. Beispielsweise könne man einen Bauern nicht einfach fragen, obe er sich nach der Feldabeit wasche, um Sex mit seiner Frau zu haben. Die Problematik von ansteckenden Krankheiten läge ganz woanders – und wollten wir sie erfassen, müssten wir uns schon richtig auf den Weg machen.

Also schlage ich ihm vor, ein paar Motorräder aufzutreiben und uns die Realität hautnah anzusehen. Ich bestehe darauf, selbst mein Moped zu fahren und rate dies auch allen anderen. Aber sie wollen trotzdem gefahren werden.

Als wir in der Morgendämmerung aufbrechen, liegt ein viertägiger 160-Meilen-Weg vor uns – 80 hin und 80 zurück. Die Straße wird schnell zum Feldweg, und dieser genauso schnell zu einer Piste über Stock und Stein. Bin bis dato nur 50er-Moped in Berlin gefahren – hier also lerne ich nun echtes Motorradfahren.

Schon nach ein paar Meilen stoppt unsere Fünfergruppe: der Engländer ist während der Fahrt entrüstet vom Motorrad gesprungen und beschimpft seinen Fahrer lautstark ob dessen rücksichtsloser Fahrweise. Der Fahrer selbst wirkt irritiert, weil alle hier so fahren und ansonsten kein Durchkommen durch diesen Dschungel möglich wäre. Und weil zu diesem Ritt traditionell das Kauen von aufputschenden Bethelnüssen und der wohldosierte Genuss von selbsterzeugtem Alkohol gehört. Geduldig erkläre ich dem Rotschopf, dass bereits seine Vorfahren kommandierend durchs Land zogen und es bestimmt keine gute Idee sei, solch kolonialistischen Habitus an dieser Stelle fortzuführen. Denn damit würde er riskieren, bald mangels Motorrad den Fussmarsch antreten zu müssen. Missgelaunt steigt er deshalb wieder zurück aufs Gefährt seines Fahrers, der mindestens zwei Köpfe kleiner ist als er und sowieso schon enorme Mühe hat, den wohlgenährten Europäer sicher durchs Gelände zu chauffieren.

Wenige Meilen später wiederholt sich das Spiel. Mit dem Unterschied, dass der Fahrer diesmal das Weite sucht und sich im nächsten Dorf noch mehr betrinkt. Mit hochrotem Kopf unter roter Haarpracht steht nun der Engländer mitten im Urwald und ringt nach Luft und Contenance. Um ihn herum die anderen Teilnehmer, ratlos, aber auch ein wenig schadenfroh. Weil keiner eine bessere Idee hat, mache ich das Ende zu einem neuen Anfang, ganz spontan. Als intuitiver Ausbruch von Liquid Leadership, in Reinform.

Handle mit dem Engländer aus, dass er ab sofort gefügig ins zweite Glied zurücktritt und mir die Führung der Gruppe überlässt. Ich hole den abhanden gekommenen Fahrer unter der Zusicherung zurück, er würde niemals wieder den Engländer befördern müssen. Und überzeuge die schmächtige Burmesin das Fahrzeug zu wechseln und fahre ab diesem Moment federführend an der Spitze unserer kleinen Exkursion. Das klappt ganz gut, fordert mir als Fahranfänger aber wirklich das Äusserste ab. Erschöpft falle ich abends in meinen Schlafsack, um morgens die schönsten Urwaldpanoramen meines Lebens zu sehen.

Ein Sidekick: auffällig während unserer Tour ist, wie erstaunlich schnell sich die Gesellschaft hier an die neuen Bedingungen anpasst. Wir durchqueren drei Innovationszonen: Räume in denen Mobilfunk verfügbar ist und auch solche, wo die Sendemasten schon aufgebaut aber noch nicht angeschaltet sind. Und jene, die noch nichts davon haben. In allen drei Gegenden haben sich die Menschen schon Handys besorgt und verschafften sich notfalls per Offgrid-Vernetzung vorausschauend Zugang zu Facebook und vor allem auch Bildungsangeboten. Ich treffe sogar Familien, in denen das einzige Gerät zeitlich gerecht unter allen Mitgliedern aufgeteilt wird.

Als wir nach zwei Tagen unseren Zielort erreichen, entpuppt sich das Krankenhaus, welches von der NGO finanziert wurde: als Bauruine. Die Krankenstation nebendran in einer zugigen Holzhütte ist ebenfalls verlassen – die sorgfältig geführte Dokumentationskladde datiert den letzten Eintrag knapp einen Monat zuvor. In losen Kisten lagern noch ein paar Aspirin. Wie wir von Nachbarn erfahren, ist die letzte Krankenschwester kürzlich abgezogen, weil ihr armseliger Monatslohn von 50 US-Dollar nicht mehr aufgebracht werden konnte.

Ronja ist entrüstet, ja reagiert richtig aufgebracht. „Wie kann das sein, dass hier niemand mehr ist?“ schreit sie in die Leere der Hütte. Mich überrascht so viel Anfall von Naivität. Auch heute noch. Wie schon wie so oft zuvor versuche ich ihr zu erklären, dass genau dieses Verhalten nicht Teil der Lösung, sondern allenfalls Teil des Problems ist. Und bitte sie aufrichtig daraus zu lernen.

Wir verbringen einen wundervollen Tag am schönsten Fleckchen Natur, das man sich nur vorstellen kann. Baden unter einem malerischen Wasserfall und werden abends als Ehrengäste zu einer Housewarming-Party im Dorf eingeladen. Wenngleich alle Dorfbewohner aus guter Erfahrung wissen, dass sie nichts von uns zu erwarten haben, ist die Wärme ihrer Gastfreundschaft umwerfend. Und obwohl ich ja eher ein vorsichtiger Esser bin, bringe ich es nicht übers Herz, die extra auch für uns zubereiteten Fleisch-Spiesse aus allerlei Innereien zu probieren. Die anderen unserer Gruppe auch.

Dies wird uns am nächsten Tag zum Verhängnis, als wir die Heimreise antreten. Nach und nach kippen alle Exkursionsteilnehmer vom Motorrad – die anderen Fahrer und auch ich werden zunächst verschont. Zurück in der Provinzhaupt gibt aber auch mein Magen nach, und obwohl ich Ronja und mich mit dem Geländewagen meines Onkels zurück ins sichere Heim nach Mandalay chauffieren lasse, bedürfen wir dennoch der zweiwöchigen fürsorglichen Pflege meiner Tante Nunu. Bis wir immer noch geschwächt vom unbekannten Erreger wieder unsere ersten eigenen Schritte unter die wärmende Sonne Myanmars unternehmen können.

Von diesem Zeitpunkt an sind Ronja und ich eins. Zusammen geschweisst im Verständnis, dass Unterstützung in solchen Ländern viel gegenseitiger laufen müsste, und unendlich dankbar dafür, dass wir auf unserem gemeinsamen Ausflug so Grundsätzliches erfahren und Kostbares lernen durften. Wir schmieden Pläne, suchen Kontakte in wirklich aufrichtige Projekte und schwören uns gegenseitig, niemals wieder von dieser Idee abzulassen.

Was bleibt?

Zurück in Deutschland, zurück in Berlin entschwand Ronja dann schnell wieder in ihrer Europa-Privilegiertenblase – und ich arbeite seitdem noch fokussierter an einer wechselseitigen Entwicklungshilfe, von der alle Beteiligten profitieren könnten. Einen Zugang und ausreichend Verständnis hierfür herzustellen, unseren Blick zu schärfen und Skills und Kompetenzen aufzubauen, die hierfür nötig sind – dafür steht auch dieser Text hier.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nach oben scrollen