Geschichte 3

Loser und Versager haben wir nicht

Eine Geschichte aus dem Schulalltag eines Gymnasiums im Speckgürtel von Berlin – und eine Parabel dafür, wie schön es sein könnte.

Es hat mich schon immer bewegt, warum ich selbst in der Schule, in den Universitäten, ja in unserem gesamten Bildungssystem -> nie so richtig ankam. Seit ich denken konnte, saugte ich zwar Informationen und Allgemeinwissen förmlich auf und las mit zarten neun Jahren schon täglich Zeitung – in den Augen meiner Familie, der Schule und meines Umfelds galt ich dennoch als verträumt, faul und eigensinnig. Das änderte sich auch in der Hochschule nicht, wo ich niemals einen Schein machte oder eine Prüfung ablegte. Und dennoch tiefer als manch einer meiner KommilitonInnen in die Materie eintauchte.

In meiner Funktion als ehrenamtlich beauftragter Künstlerbeirat eines Landkreises südlich von Berlin wurde mir während einer trockenen Gremien-Sitzung zum Zustand der Jugendörderung und meiner schonungslosen Kritik daran eines Tages provozierend die Gegenfrage gestellt, ob ich denn ein Schulprojekt auch direkt anstossen und betreuen würde. Sponsorenfinanzierung und Schulort seien gesichert, weil unerwartet ein geplantes Photovoltaik-Projekt weggebrochen.

Klar, das mache ich. Dann solle ich doch die örtliche Kunsterzieherin im betreffenden Gymnasium kontaktieren und ihr ein Konzept vorschlagen. Was ich auch tat: ich bat sie, für mich alle Loser (=Verlierer) und Versager der Schule anzusprechen und sie in unser Nachmittagsprojekt einzuladen. Ihre Antwort: „Haben wir nicht.“ Meine: das glaube ich ihr nicht.

Zwei Wochen später sassen fünf hibbelige SchülerInnen im Kunstraum, skeptisch, aber auch neugierig auf das was da kommen möge. Man hatte ihnen unser neues Projekt ganz pragmatisch als Kunstworkshop verkauft. Doch es sollte viel mehr werden als das.

Denn hier rieben und mobbten sich gleich in den ersten zehn Minuten sowohl Fünftklässler als auch AbiturientInnen und alle dazwischen – auch das hatte ich mir entgegen allen Gepflogenheiten ausbedungen. Warum sollten Jugendliche immer nur im Rahmen ihrer eng gefassten Altersgruppe miteinander sein?

Nachdem ich das gegenseitige Verlegenheits-Mobbing abgestellt hatte, legten wir gemeinsam den groben Rahmen für unsere monatlichen Treffen fest. Die Kunsterzieherin wollte sich schon zurückziehen, weil sie ja eigentlich nur die Aufsicht über das Ganze hier hätte. Woraufhin ich sie ultimativ vor die Wahl stellte, entweder vor der geschlossenen Kunstraumtür Wache zu schieben oder viel lieber als wertvolles Mitglied unserer kleinen werdenden Gemeinschaft konstruktiv und gleichberechtigt daran teilzunehmen. Das fand sie unerhört, fügte sich aber und wählte die Gruppenmitgliedschaft als kleineres Übel. Liess sich in unserem geschützten Rahmen sogar Duzen, was ich in diesem Moment ganz intuitiv als weitere Regel vorgab.

Wie beim Kennenlernen überhaupt sind die ersten Sekunden und Minuten einer Begegnung oft die entscheidenden:

Auf welcher Basis und Ebene kommunizieren wir? Wieviel Respekt, Zuhören und Wertschätzung ist ein jeder Teilnehmer bereit aufzubringen, um echtem gegenseitigen Vertrauen eine tragfähige Grundlage zu geben?

Das war vielleicht der entscheidende Moment dieses Workshops – und ich zeigte ihnen an wenigen Beispielen, dass nur echtes persönliches Engagement unseren kleinen gemeinsamen Projektraum schützen könne. Den sich eigentlich alle so sehr wünschten. Und wie sich herausstellen sollte: keiner von ihnen bislang hatte. Denn der gewöhnliche Schulalltag gibt ausserordentlichen Talenten und Ideen aufgrund seiner Kompromisslosigkeit oft wenig, meistens keinen und im schlimmsten Falle nur herabwürdigenden Raum. Eine Entwicklung, die sich im Zeitalter der parallel laufenden sozialen Medien und seiner Echokammern leider noch verschärft hat.

Zu unserem zweiten Treffen brachte ich wie immer einige Süssigkeiten und Getränke mit. Während die Kunsterzieherin noch zu einer Lehrerbesprechung abwesend war, bauten einige der SchülerInnen die Trinkbecher zur Ballwurf-Pyramide und starteten parallel zu unserem Programm ein Schiessbudentraining. Ich liess sie gewähren und bat sie lediglich darum, die übrige Gruppe nicht übermässig zu stören. Und die Trinkbecher unversehrt zu lassen und wieder zu uns zu stossen, wenn ihr Spieltrieb bedient sei. Ganz natürlich entstand so eine Atmosphäre des gegenseitigen Respekts und der Gelassenheit. Bis die Kunsterzieherin plötzlich in der Tür erschien und dem bunten Treiben für einen kurzen Moment ein jähes und recht unfreundliches Ende setzte. Psssst: die Kunsterzieherin und ich, wir haben wirklich lange gebraucht, um uns aneinander zu gewöhnen.

Mit verschiedensten Workshopformaten lud ich die Jugendlichen fortan ein, ihre echten Interessen und Leidenschaften mit der Gruppe zu teilen, seien sie auch noch so wirr und abwegig. So stellte sich schnell heraus, das Jede und Jeder von ihnen bereits einen kleinen kreativen Schatz hütete, welcher oft nicht die eigene Kraft hatte, im rauen Schulalltag zu bestehen. Oder dies ihm schlicht nicht zugetraut wurde. Ein Schüler der jüngeren Jahrgangsstufen etwa stellte mit selbstgegossenen Zinnfiguren historische Schlachten nach – wovon keiner etwas wusste ausser seiner engsten Familie. Ein anderer betrieb bereits sogar zusammen mit der Kunsterzieherin ein verborgenes bildhauerisches Ton-Experiment innerhalb der Schule, weil nur hier ein entsprechender Brennofen zur Verfügung stand. Keiner wusste davon, weil sich auch niemand dafür interessierte.

Der angeblich schwierigste Jungendliche in unserem Kreise offenbarte irgendwann, dass er in seinem alkoholabhängigen familiären Umfeld die alltägliche Verantwortung für seine kleine Schwester trug. Und zum Ausgleich während des Unterrichts lustige und manchmal auch recht gewalttätige Comics zeichnete. Zum Ausgleich, und zum Ärger seines Mathelehrers. Wenn er denn überhaupt in der Schule war.

Ein wiederum anderer Schüler interessierte sich ausschliesslich für die (Nicht-)Farbe Weiss. Zufälligerweise war ich in dieser Zeit mit der fotografischen Dokumentation eines Kinderbuchs in reiner Scherenschnitttechnik (also ohne gedruckte Farben oder Bilder) beschäftigt. So lud ich kurzerhand dessen Autor (der eigentlich Grafiker war) zu einem unserer Workshoptermine ein. Diese Begegnung zwischem begnadetem Grafiker und dem Nachwuchsgrafiker war auch für alle anderen in der Gruppe atemberaubend. Somit begann ich für unsere monatlichen Sessions immer wieder Hospitanten aus meinem weiteren beruflichen Umfeld mitzubringen. Was den unerwarteten Effekt hatte, dass sich Jugendliche und Professionelle gegenseitig mit den unglaublichsten Perspektiven und Ideen befruchteten.

Von nun an lief das Programm unseres Projekts ganz intuitiv ab. Ich liess mich von meinen alltäglichen beruflichen Projekten und Begegnungen inspirieren – und die SchülerInnen trugen ihre eigenen Erlebnisräume offen und aufrichtig mit bei. Als wir den Eindruck gewannen, dass die Gruppe nun bereit sei, das Gymnasium als Ganzes anzusprechen, simulierten wir eine Werbeagentur. Und erforschten gemeinsam, wie das mit Zielgruppen, Unique Selling Points und ausgefeilter Kommunikation so funktioniert.

Einen kleinen Höhepunkt erreichte unser Projekt, als die Kunsterzieherin vor versammelter Mannschaft verkündete, dass sie nun auch eigene Projekte in ihrem schon seit einigen Jahren unterm Dach eingerichteten privaten Kunstatelier angehen wolle. Was für ein Kompliment!

Drei Dinge sind mir mit diesem Projekt ganz besonders im Gedächtnis geblieben:

Erinnern sie sich? All diese wunderbaren Jugendlichen wurden mir anfangs als Loser und Versager vorgestellt, mit alltäglichen Problemen im Gymansialalltag bis hin zur totalen Schulverweigerung. Doch am Ende traten sie alle gemeinsam als BotschafterInnen einer anderen Perspektive auf die Dinge hervor. Konstruktiv und reflektiert, einladend und mitfühlend, inspiriert und offen für eine herausfordernde Zukunft. Ihre Zukunft.

Und: Mädchen waren meist noch zaghafter in der Ausformulierung ihrer Träume und Wünsche, obwohl diese oft viel klarer und drängender zu sein schienen als bei ihren Mitschülern. So wunderte es mich auch nicht, dass ich am Ende eine sehr begabte junge Fotografin dazu einladen konnte, in meiner ersten Retrospektive als Fotograf ihren ganz eigenen Nachwuchskünstlerinnen-Ausstellungsraum in meiner Berliner Bilderschau zu bespielen. Dort wagte sie zum ersten Mal ihre Arbeiten einer breiten Öffentlichkeit zu zeigen.

Drittens: ganz egal, ob wir solche Phänomene ADS, ADHS, Autismus, soziale Störung oder auch ganz anders nennen – solange wir uns nicht auf abweichende menschliche Wahrnehmungsformen einlassen und diese stattdessen ignorieren oder allenfalls besorgt pathologisieren, werden wir einen entscheidenden Teil unserer Kinder in deren eigene Verzweiflung verlieren. Sie dort wieder herauzuholen erfordert ein Vielfaches der Energie die es kosten würde, sie von Beginn an dort abzuholen wo sie wirklich sind.

Letztlich: Oft genügt nur eine konsequente, aber eigentlich kleinere und gut zu bewältigende Veränderung des Erlebnisraums, um einschüchternd wirkende Probleme und Herausforderungen in kreative Bahnen aufzulösen. Skills und Einsichten, die hierbei hilfreich sind: raus aus der Komfortzone, die eigentlich keine mehr ist. Rein ins Abenteuer, in die Neugier, in den Respekt, ins Testen, Scheitern, und den neuen Anlauf. Besser in Gemeinschaft als einsam und alleine. Und Mut. Mut zum Anderssein.

Und für mich als Coach: Entscheidungskraft und eine Idee wie schön es sein könnte – sowie eine Haltung zu den Dingen, die sich stetig lernend auch verändern darf.

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