Geschichte 8
Grundschule während der Pandemiezeit
Wie gewollter Online-Unterricht nicht sein durfte. Wie man spontan, intuitiv und ganz dreist Auswege bastelt und was jeder einzelne Lehrer daraus lernen könnte
Die Neuigkeiten zum Virus erreichen mich während einer achtwöchigen Reise durch die abgelegensten Regionen Myanmars. Als ich endlich realisiere was dies bedeutet, ist mein Rückflug nach Berlin via Peking schon längst gestrichen. Zu Mondpreisen ergattere ich noch einen der letzten Flüge raus aus Südostasien – in der bangen Erwartung, dass ich vielleicht meinen Fotojob auf dem Berlinale-Filmfestival gar nicht mehr antreten kann. Wengen Quarantäne oder so. Aber nichts passiert. Keine wirklichen Kontrollen unterwegs, hier und da mal ein Fieberthermometer, kein Quarantänezelt am Frankfurter Flugdrehkreuz … die ganze Welt scheint so baff zu sein wie ich selbst. Und auch die Berlinale läuft noch bis zum letzten Tage, ab da ist Lockdown.
Meine damalige Freundin ist Lehrerin. In einer Grundschule in Lichtenberg, mit vielen liebenswerten Migrantenkindern, aber hart am Rande der sogenannten Brennpunktrealität. Im Laufe unserer Beziehung habe ich erfahren dürfen, wie sparsam die universitäre Lehramtsausbildung unsere angehende Lehrerschaft auf diese Herausforderung vorbereitet. Und wie der Lehrermangel zusätzlich gerade dort die Lage bedrohlich verschärft, wo der Bedarf eigentlich am Grössten ist. In Berlin sind das viele Ost-Randbezirke mit tausenden von Plattenbauwohnungen wie eben in Lichtenberg, und die sowieso bekannten Brennpunkte in Nord-Neukölln oder dem Märkischen Viertel.
Der Lockdown versperrt für viele von ihnen den letzten Rest von sozialer Interaktion, besonders für die Kinder. Wie damit umgehen, wenn Du Lehrerin oder Lehrer bist?
Mit meiner Freundin habe ich in diesen Tagen hitzige Diskussionen darüber. Verstehe ja ihre Position, dass dieses aussergewöhnliche Ereignis auch eine unerwartete Chance zum Durchatmen bietet, wo doch nichts mehr geht.
Was ich allerdings nur schwer akzeptieren kann ist ihre augenfällige Ideenlosigkeit, welche Konsequenzen solch eine Situation auch birgt. Positive wie negative. Solche Formen von Auseinandersetzung kamen in ihrem Studium nicht vor – und so existierten sie auch in ihrer Welt nicht. Diese Fähigkeit, sich tatsächlich in die Perspektive seines Gegenübers zu versetzen, sie mit der eigenen abzugleichen und daraus Lösungsansätze zu erarbeiten. Sind Begifflichkeiten wie Empathie, Transformation, Zukunftssicherheit und Digitale Kompetenzen nur leere Worthülsen?
Kann meine Freundin nach zwei Wochen Zwangsferien schliesslich davon überzeugen, Kontakt zu ihren Schülerinnen und Schülern aufzunehmen. Also lediglich den Versuch zu starten, um ganz ehrlich zu sein. Anhand der letzten Elternabendliste beginnt sie zu mailen und zu telefonieren. Ist das datenschutzkonform? Egal. Sollte doch Bildung über dem Datenschutz stehen, oder nicht?
Realistisch betrachtet erreicht sie zu Beginn nur knapp die Hälfte der Familien. Die anderen sind untergetaucht. Weil ich ja selbst zur Untätigkeit verurteilt bin in meinen angestammten Berufsfeldern, habe ich schon längst angefangen zu recherchieren. Denn zu dieser Zeit ist Online-Unterricht noch kein existierendes Wort, und Whatsapp und Telegram die einzigen sinnvollen Kanäle, um in quasi-Echtzeit miteinander digital und virenfrei zu kommunizieren. Also erschaffe ich für meine Freundin und ihre Schüler einen organisatorischen Workaround, der sie in einen selbstgebastelten Onlineunterreicht hineingleiten lässt. Anfänglich noch arg improvisiert und mit wachsender Erfahrung dann schnell hochskaliert, mit einem ganz eigenen Arbeitsrhythmus. Sie holt ihre Kinder frühmorgens um neun (denn wir haben den Unterrichtsbeginn ganz frech nach hinten verlegt, für die Langschläfer) mit Spielen rund ums aktuelle Thema ab, und taucht danach ein in die Vielfalt ihrer beiden Unterrichtsfächer. Zu Beginn begleite ich das noch aktiv, später überlasse ich ihr das Feld, denn sie ist ja die Expertin. Und kümmere mich ausschliesslich ums Administrative. Denn je länger das geht, desto komplizierter wird es: denn der Datenschutz rückt nach der ersten Schockphase wieder ins Blickfeld der Verantwortlichen. Was nur tun, wenn alle nützlichen Online-Tools in den Händen amerikanischer Konzerne befinden? Und eilig zusammengezimmerte Berliner Online-Lösungen allenfalls zwei Tage funktionieren, bis sie unter dem gewaltigen Nutzeransturm zusammenbrechen? Was die unzähligen privatwirtschaftlichen Corona-Teststellen zur wahren Goldgrube macht, mit Online-Anmeldung, Online-Testzertifikat und bald einer Rundum-Onlineversorgung, wil nicht so recht als Blaupause für die Berliner Verwaltung dienen. Denn die will lieber keine Fehler machen, keinen Betrug zulassen, keine Experimente wagen – und tut deshalb erstmal: nichts.
Ganz im Gegenteil: als die Grundschulleitung meiner Freundin realisiert, in welchem Umfang diese bereits wieder ihre Klasse beschult entsteht rasch die Befürchtung, dies könnte beispielgebend werden und andere Kollegen in entsprechenden Handlungszwang bringen. Man bedeutet ihr, ihr Engagement deutlich herunterzufahren – und als dies nicht fruchtet, teilt man sie kurzerhand in die neu eingerichtete Präsenz-Notbetreuung ein. Was in der Zwischenzeit mit ihrer Klasse passieren soll, der immer noch einzigen funktionierenden der ganzen Schule, bleibt unbeantwortet.
Ich spüre die Hilflosigkeit meiner Freundin, paralysiert in ihrem eigenen Engagement – und beginne reflexartig mein politisches Engagement zu aktivieren. Sind ja bereits die ersten Bildungsforscher und Institute angetreten, den Coronaschaden für die Gesamtheit unseres Nachwuchses zu evaluieren. Noch zaghaft und nicht so verbittert wie später, aber bereits deutlich artikuliert. Nehme also Kontakt auf zu diesen Experten und schildere ihnen unseren unglaublichen Fall. Die blanken Antwortmails hierauf werden wir dann später verwenden, um gegen die Schulbehörde des Stadtbezirks anzutreten. Denn die Fronten haben sich mittlerweile so verhärtet, dass eine Rückkehr meiner Freundin in einen irgendwann wieder stattfindenden Präsenzlehrbetrieb in dieser Grundschule nicht mehr vorstellbar ist. Schulwechsel also als einziger Ausweg, und bittere Auseinandersetzungen darüber zwischen uns als Paar, wie das gelingen könnte. Denn ich bin aufgrund meines unkonventionellen Lebenswegs geschult in solchen Dingen – meine Freundin aber gar nicht. Ich berate sie, führe sie wie ein Coach durch die brutalen Etappen einer selbstbezogenen Bürokratie. Das ist hart für sie, härter als sie es zumeist ertragen kann. Letztlich führt unsere Drohung, mit dem Thema breitenwirksam an die Öffentlichkeit zu gehen zur klammheimlichen Entscheidung der übergeordneten Behörde, meine Freundin an ihre inzwischen ausgesuchte Wunsch-Grundschule zu lassen. Die unschönen Details auf diesem Weg würden diesen Text auch nicht weiter bereichern, deshalb lasse ich sie mal weg. Ende gut, alles gut?
Meine Learnings:
Die Corona-Pandemiezeit habe ich besser in Erinnerung als die meisten Menschen um mich herum. Zweifellos tragisch, wie viele Menschen in dieser Zeit gestorben sind, auch in meinem Umfeld. Aber eben auch ein seltener Augenblick in der Lebensspanne einer Generation, in der wie innehalten mussten. In der alles in Frage gestellt wurde, was uns wirklich etwas bedeutet: Sicherheit, Freiheit, Gesundheit, Wahrhaftigkeit, ja, und auch unsere menschliche Fähigkeit, uns mit wirklich existenziellen Fragen auseinandersetzen zu müssen. All dies war echte Disruption.
Lehrerinnen und Lehrer könnten künftig besser auf solche Ausnahmesituationen vorbereitet werden. Und weil dies in einem schwerfälligen Ausbildungssystem nicht rasch zu erwarten ist, könnten die Akteure dieser Berufsgruppe bereits selbst etwas dafür tun. Für sich selbst, für ihre Schüler, mit Lust, Neugier, echter Empathie und klaren Zielen und Entscheidungen. Die Pandemie könnte ein Anstoss dafür sein. Eine Chance, um der augenfälligen und tagtäglichen Überforderung konstruktiv zu begegnen und ihr eine positive und aufbauende Erzählung entgegenzusetzen. Wär das was?