Geschichte 12

Fotografieren ohne Kamera

Lange habe ich geglaubt, Fotografie sei mein Traumberuf. Habe hart daran gearbeitet dorthin zu kommen, wo ich meine Vorbilder sah. Habe sie zuerst ganz dreist kopiert, dann verstanden und mit wachsender Souveränität irgendwann meine eigene fotografische Sprache finden können. Bin dort gescheitert, wo ich’s am wenigsten erwartet habe. Und konnte Erfolge feiern, die ich niemals für möglich gehalten hätte

Den Beruf des Fotografen umgibt eine spannende Aura aus Freiheit und Charme, aber auch Eigensinnigkeit und einer kleinen aufregenden Prise Unseriösität. Wie für viele andere meiner Jugendzeit hinterliess Antonioni’s Kinoklassiker ‚Blow Up‘ auch bei mir einen prägenden Eindruck: wie sich der Protagonist bewundert gleich einem Rockstar von einer in die nächste unerhörte Provokation begibt … immer hart am Rande des Erträglichen, immer mit dem Nimbus des irren Genies.

Aus heutiger Perspektive natürlich höchst zweifelhaft, wo wir doch mittlerweile wissen, welch tragische Auswirkungen diese verdeckte Form von Machtmissbrauch haben kann. Ich frage mich aber, ob der Glanz mancher Social-Media-Influencer heutzutage vielleicht eine vergleichbare Form der inneren und gegenseitigen (Selbst-)Ausbeutung ist?

Anders als bei Antonioni war mein Weg in die Fotografie steinig, langwierig und entbehrungsreich. Vieles von dem was ich damals tat würde ich heute ganz anders machen – Jugend und Unerfahrenheit waren dabei nur bedingt hilfreich, selbst mit meiner seinerzeit schon unbändigen Willenskraft. Dennoch habe ich diesen Weg nie bereut. Ganz im Gegenteil.

All die Jobs und Projekte zu beschreiben, die ich während meiner langen Karriere als Mode-, Werbe- und Dokumentarfotograf in Berlin, Paris und London gemacht habe, könnte hier Seiten füllen. Aber erstens waren nur wenige davon wirklich von Bedeutung, so glamourös sie auch erscheinen mögen. Und zweitens finde ich noch immer, dass Fotos für sich selbst sprechen sollten und im besten Falle keiner weiteren Erklärung bedürfen.

Deshalb möchte ich mich hier auf zwei Anekdoten beschränken, die wirklich erkenntnisreich waren auf meinem Weg zum Heute:

Dank meiner Referenzen aus London und Paris war die Akkreditierung zu meiner ersten Berliner Fashionweek unkomplizierter als erwartet. Da stand ich nun in meinen Skinny Jeans und den Converse-Sneakers ganz am Ende des Laufstegs, dort wo der Platz der FotografInnen ist. Und beobachtete die geschätzt hundert KollegInnen beim Rangeln um die besten Plätze. Die augenscheinlichen Stars der Fotografenschaft hatten ihre Claims bereits mit Gaffertape abgesteckt, meine erste Show fotografierte ich daher eingeklemmt zwischen Teleobjektiven, Stativen und schwitzenden Menschen ganz am äussersten Rande des Geschehens.

Das nun sollte der Traum aller Fotografen sein? Hundert Menschen, die mehr oder weniger alle das selbe Foto machen? Und am Ende einer Show um die Wette zu ihren Laptops rennen, um als Erste(r) auf dem Desktop der Agenturen zu landen? Und deren vornehmliche Tageskommunikation darin bestand, über Designer zu lästern oder sich prahlerisch über das schnellste technische Equipment auszutauschen?

Intuitiv tat ich, was ich in solchen Situationen immer tue. Ich verliess dezent aber vergnügt den Haufen und begab mich ans andere Ende des Catwalks, dort wo die Models ihre ersten Schritte ins Rampenlicht machen. Hier war ich ganz allein. Während der ersten Runde hatte ich zwar nur die Rückansichten der Couture im Blick – sobald sie aber ihren Rückweg Richtung Backstage antraten, waren sie viel gelöster, scherzten sogar manchmal erleichtert mit dem Publikum. Und noch dazu konnte ich das absurde Blitzlichtgewitter meiner hundert KollegInnen mit einfangen, und wenn ich Glück hatte, sogar den einen oder anderen First-Row-Promi mit dazu. Um kein deplaziertes Ärgernis zu sein, verzichtete ich auf Blitzlicht und verlegte mich stattdessen darauf, mehr Atmosphäre und nicht so sehr die Mode einzufangen.

Nach wenigen Tagen nur sprach mich einer der Verantwortlichen des Kosmetik-Hauptsponsors irritiert an, mit der Frage, was ich denn da treibe? Ein kurzes ehrliches Gespräch nur, und hopplahopp hatte ich eine Dauerkarte fürs Heiligste des Heiligen: den Backstagebereich!

Von nun an konnte ich den Betrieb der Fashionweek studieren, sezieren, verstehen und abbilden lernen. Schaute mir den Zirkus der a-, b-, und c-Promis an, die regelmässig mit ihrem gesamten Gefolge backstage die Lieblingsdesigner besuchten. Balancierte mit den Eitelkeiten aller Anwesenden und machte mich daran, die Emotionen dieser sonderbaren Gemengelage zwar kritisch, aber auch so einzufangen, dass sie sich darin gefielen. Von Saison zu Saison schärfte ich so in halbjährigem Rhythmus meinen Blick fürs Wesentliche. Nicht nur an der Kamera, aber auch.

Mit der Zeit hatte ich mich so weit vorgearbeitet, dass ich die Models in dem Moment portraitieren konnte, in dem sie den Laufsteg betraten. Was für ein Schauspiel der Emotionen! Manche alberten rum, wieder andere bekreuzigten sich andächtig, viele waren einfach routiniert und ganz schön abgebrüht.

Es schwante mir aber schnell, wie kurzlebig dieser Zirkus eigentlich war, der sich selbst so verdammt wichtig nahm. Denn während noch die letzte Show der Saison lief, wurden backstage schon alle Lampen abgebaut, die DesignerInnen verschwanden für die nächsten fünf Monate in ihre oft bescheidenen Ateliers mit täglich Spaghetti und Tomatensauce. Und all die Promis sahen plötzlich ganz blass aus, so ohne buntes Blitzlichtgewitter. Das einzige was blieb, waren unsere Fotos.

Ein Projekt, das mir wirklich noch immer sehr am Herzen liegt, sind die Terranauten. Bei einer Tanzperformance hatte ich zufällig entdeckt, dass Lisa entgegen jeglicher physikalischer Regel fliegen konnte. Wie machte sie das?

Ich fragte sie, und wir bastelten ein gemeinsames Projekt daraus. Ja, vielleicht das Aufregendste meiner ganzen fotografischen Laufbahn überhaupt.

Aus einer bodennahen tänzerischen Bewegung heraus entwickelten wir fortan DEN kurzen Moment der Schwerelosigkeit, den ich mit der Kamera einzufangen lernte. Erst probeweise auf Gras und Teppich – am Ende ‚flogen‘ die Terranauten über Bällebädern im Möbeleinrichtungshaus, über den Dächern Berlins, über Kleingeld, auf Partys und sogar über ganze Betontreppenhäuser. Dieser Prozess des Entdeckens, der gegenseitigen Achtsamkeit und Synchronisation, des Glaubens an uns selbst, der war atemberaubend, fordernd und einzigartig.

In meiner Anfangszeit hatte ich mich wie viele andere natürlich auch mit erotischer Fotografie beschäftigt. Der Körper als Ganzes ist leichter zu erfassen als einzelne Gesichtsausdrücke und Regungen. Zudem übt Nacktheit als sexueller Code einen ganz besonderen und ersehnten Reiz aus. Der auch mich lockte. Doch während sich die anderen hinter ihren Objektiven versteckten und ihre ganz persönliche Schaulust zusammen mit ihren Aktportraits peinlich berührt als ‚künstlerisch‘ maskierten, interessierte mich das Echte, das Rauhe, das Unversteckte. Die Abgründe und die Widersprüchlichkeiten. Macht und Ohnmacht. Wenn Unantastbarkeit sich plötzlich öffnet. Je mehr ich davon erheischen konnte, desto weniger brauchte ich die Kamera als Schutz oder Rechtfertigung, um Räume, Situationen und Settings zu erforschen. Dabei durfte ich Dinge sehen, die anderen verborgen bleiben.

Lange Jahre fotografierte ich auch für das Berlinale Filmfestival. Nicht am roten Teppich der Stars und Sternchen, sondern für eine kleine feine Sektion des ästhetischen Eigensinns. Hier versammeln sich alljährlich die Experten der Experimente, der politischen Dokumentationen und der theoretischen Exzesse. In Ausstellungen, Performances und Konferenzen können sie stunden-, ja tagelang über Aspekte einer Nische diskutieren, die so speziell ist, dass vermutlich kein Aussenstehender sie kennt.

Hin und hergerissen zwischen meiner Bewunderung für so viel Nerdigkeit und der durchaus berechtigten Frage, ob für solch extreme Partikularinteressen wirklich die Allgemeinheit mit ihren Steuern aufkommen sollte, konzentrierte ich mich wieder mal auf die Emotionen. Im schummrigen Licht der Kinosäle am Potzdamer Platz trainierte ich mich darin, in Minutenfrist die Gestiken und Mimiken der Filmemacher zu erlernen, um während der kurzen Fragerunden ihre lebendigsten Momente einzufangen. Eine Faszination und Fähigkeit, die mich danach nie mehr losgelassen hat und welche mir immer wieder zusätzliche Einblicke in die Kunst der Menschenkenntnis beschert. Auch in Momenten, die mit Fotografie überhaupt nichts zu tun haben.

Heute kann ich sagen, dass die Kamera wirklich nur eines von vielen Ausdrucksinstrumenten ist, derer ich mich bediene. Andere haben Musik oder Schauspiel – ich die Lichtbildnerei. Und während andere KollegInnen auf immer teurere Technik bis hin zur künstlichen Intelligenz setzen, würde ich am Liebsten nur mit meinen Augen fotografieren. Das wäre der unmittelbarste und authentischste Weg all das einzufangen, was mir wichtig ist. Nicht als eine Art fotografisches Gedächtnis, sondern als unmittelbarste und spontanste grafische Ausdrucksform, die dann möglich wäre. Noch besser als die Schreiberei, die ich auch so sehr liebe.

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