Geschichte 10
Good Governance – immer nur für andere?
Wie Abwegiges fruchtbar wird. Und Non Formal Education eine wertvoller Ansatz sein kann
Angenommen, es gäbe eine Art fahrendes Klassenzimmer, das immer dort hinkommt, wo klassische Bildung Kinder und Jugendliche bereits verloren hat. Oder noch nie erreicht. Aus welchen Gründen auch immer. Wie eine mobile Bibliothek stünde diese Schule mal hier und mal dort, würde nicht nur lehren, sondern parallel dazu auch lernen, wie sie ihr Angebot aktuell und attraktiv gestalten kann.
Eine solche Schule gibt es tatsächlich in der myanmarischen Metropole Yangon. Konzipiert für Tausende von Strassenkindern, die in unzähligen kleinen Teashops arbeiten statt zur Schule zu gehen. Um ihnen eine bessere Perspektive für ihre Zukunft zu verschaffen, rief ein Exilburmese und ehemaliger Investmentbanker das MyMe-Projekt ins Leben. Zuerst in ausgedienten uralten Stadtbussen, und später auf kleinen Lastwagen. Er richtete zusammen mit seinem Team mehrere solcher Schulräume ein, engagierte die besten LehrerInnen des Landes und fing einfach an zu unterrichten. Schnell stellte sich heraus, dass klassische Lehrpläne für ein solches Vorhaben nicht taugen und ein weit flexiblerer Ansatz her musste. So adaptierte man das bereits in den 1970er Jahren entwickelte Konzept der Non Formal Education für den Einsatz auf Yangons Strassen und fokussierte sich ausschliesslich auf die Lebensrealität und die tatsächlichen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen. Das Konzept wurde fortwährend weiter entwickelt, mittlerweile sogar mit einer digitalen Lernplattform für Computer, Tablets und Mobiltelefone, um die SchülerInnen mit Erlaubnis der Teashopbesitzer auch in deren Räumen unterrichten zu können. Die aufgrund der aktuellen unsicheren Situation im Lande sogar auch ohne Internetzugang funktioniert. Gerade hier zeigt sich, dass prekäre Umstände oft ein guter Grund sind, alte Muster und Ansätze zu überdenken und neue praxisnähere Modelle zu entwickeln. ( → Siehe auch Projektbeispiel 4: Aufbau einer Deutschklasse für künftige Fachkräfte)
Der Erfolg des MyMe-Projekts hat mich für meine Arbeit in Deutschland sehr inspiriert. Nicht nur die Pandemiezeit hat uns gezeigt, wie wichtig non-formale Ansätze und Skills sind, um auf die sich immer schneller wandelnden Anforderungen unserer Zeit zu reagieren. Waren Remote-Arbeit und Online-Unterricht zuvor nur Randthemen, so rückten beide plötzlich in den Fokus einer schockparalysierten Gesellschaft. Ganze Regularien wurden aus purer Not zeitweise ausser Kraft gesetzt, um die Welt dennoch am Laufen zu halten. Und in diesem disruptiven Moment waren Ideenreichtum und Experimentierfreude in Wirtschaft, Kultur und Bildung unversehens sehr gefragt. ( → Siehe auch Projektbeispiel 7: Grundschule während der Pandemiezeit)
Man kann sich Non Formal Education (NFE) vorstellen wie ein intuitives Lernen am roten Faden. Ein Weg, der über erratische Wissensaufnahme und schematisches Denken weit hinausgeht. Meistens im Team, idealerweise in kommunikativen Gruppenprozessen und immer mitten in der aktuellen Lebensrealität der Lernenden. Der Ausgang ist stets unvorhersehbar, der Weg dorthin allerdings eine Bereicherung für jedes Individuum.
Bewusst werden hier verschiedenste Lernsituationen geschaffen, oft spontan im Rahmen anderer attraktiver und unverfänglicher Aktivitäten. Ganz so wie Bildung eigentlich bereits seit Jahrtausenden auf natürliche Weise stattfindet. TeilnehmerInnen werden ermutigt, eigene Inhalte und Projekte zu wählen, um gleichzeitig Flexibilität, Vertrauen, Zwischenmenschliches, Freiheit und Entscheidungskompetenzen zu trainieren. In erfahrungsbasierten Aktivitäten, welche am Ende wiederum leicht und unbefangen die Entwicklung von Fähigkeiten und Wissen befördern.
Die UNESCO hat im Jahr 2010 festgestellt, dass NFE einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung, Wissenschaft und Technologie gewährleistet und gerade auch benachteiligten Gruppen durch die Einbeziehung von Umfeld und Familie oft erst Berufsausbildung und Weiterbildung eröffnet. Deshalb plädieren die Vereinten Nationen in ihren Zielen für die nachhaltige Entwicklung auch für eine Diversifizierung der Lernmöglichkeiten, um die Bedeutung von NFE endlich anzuerkennen. Formale und nicht formale Bildung kann dabei gut miteinander kombiniert werden, was so schon an mehreren Universitäten weltweit praktiziert wird.
Als lebenslanges Lernen ist NFE seit jeher Teil von Community-basierten Programmen der Pfadfinder oder auch in Schwimmkursen für Kleinkinder. Aber auch in der Erwachsenenbildung, in Konferenzen und Seminaren wird gerne darauf zurückgegriffen. In Frankreich und Italien werden hierfür Elemente von Schauspiel und Theater zur Stärkung von
Gemeinschaftsprozessen genutzt. Bislang eher auf Konzepte des wiederkehrenden und lebenslangen Lernens beschränkt könnten anpassungsfähige Lernumgebungen, Begeisterung und Leidenschaft auch in klassischen Strukturen wichtige Elemente sein, um den Zugang zu neuen Fähigkeiten und Kenntnissen zu erleichtern. Und beispielsweise Schulverweigerer dort abholen, wo sie wirklich sind. Denn oft reicht das formale Bildungssystem mit seinen starren Regeln und Vorschriften für sie nicht aus, um ihre individuellen Grundbedürfnisse konstruktiv in die Gesellschaft einzubringen. Wie wäre es, sich statt mit Lehrplänen und Programmen mehr mit Strategien zum Erreichen nützlicher und realistischer Ziele zu befassen? Was wäre eigentlich, wenn wir aktuelle Phänomene und Pathologisierungen wie ADS und ADHS und andere Lernstörungen auch aus dieser Perspektive betrachten würden?
( → siehe auch: Projektbeispiel 2: Loser und Versager haben wir nicht!)
NFE eignet sich hervorragend um Wege zu entwickeln, um mit unübersichtlichen Situationen umzugehen, verschiedene Berufsgruppen zusammenzubringen oder verhärtete Strukturen aufzubrechen. Ich habe das erfolgreich in meinen Medien-Projektmanagementseminaren an Universitäten einsetzen können ( → siehe auch Projektbeispiel 1: Wie ich das Scheitern zu meinem Prinzip machte), aber auch in Coachings für Unternehmensstrukturen und Startups.
Einmal erhielt ich in Zusammenarbeit mit drei ausgebildeten und äusserst erfahrenen NLP-Coaches den Auftrag, das Auseinanderbrechen einer Bildungsinstitution zu verhindern, die sich der universitären Begleitung von neugegründeten Start-Ups verschrieben hatte. Sie scheiterte bereits nach recht kurzer Zeit ihrer Gründung, so schien es, an den eigenen Idealen und Lehrgrundsätzen. Und drohte damit ihre wertvollsten MitarbeiterInnen zu verlieren. Im Erfolgsfalle sollten Teile oder auch alle unseres Coachingteams im Betrieb weiter beschäftigt werden.
Um uns einen Überblick über die Problemlage zu verschaffen, führten wir zunächst umfangreiche und vertrauliche Interviews mit allen Akteuren – vom Hausmeister bis zur Dekanin. Und arbeiteten dann einen Wochenend-Workshop aus, der alle Streitigkeiten sehr deutlich benannte. Mein selbstgewählter Part (als eigentlich Branchenfremder und Quereinsteiger in der Coachingszene) war es, den Finger tatsächlich immer wieder in die Wunde zu halten und einladend dafür Sorge zu tragen, dass sich keiner vorbeimogelte. Dies erforderte unglaubliches Fingerspitzengefühl, aufmerksames Zuhören, unkonventionelle Lösungskompetenzen und die Fähigkeit, intuitiv ein glaubwürdig positives Bild vom künftigen Arbeitsumfeld zu zeichnen. Und die aufrichtige Überzeugung, dass keine(r) hier falsch ist. Dabei halfen mir meine Erfahrungen, die ich zuvor in hierarchiefreien Arbeitsstrukturen gemacht hatte. ( → siehe auch Projektbeispiel 6 – Rettet Design Thinking die Welt?)
Mit verschiedenen Schlichtungsformaten schafften wir es schliesslich, dass die grössten Zweifler der Institution zu engagierten Botschaftern des Wandels wurden. Ein Erfolg auf ganzer Linie.
Ironie der Geschichte, dass ich Branchenfremder nach einer MitarbeiterInnen-Befragung anschliessend als Einziger ins Projekt-Coachingteam der Privatuniversität übernommen wurde. Auch in dieser Funktion machte ich es mir zur Aufgabe, die menschliche Komponente stets gleichberechtigt neben den strukturellen und der wirtschaftlichen Aspekten zu sehen. Sorgsam achtete ich darauf, dass eingesetzte Methodiken nicht zum Selbstzweck wurden und die Bedürfnisse und Wünsche der TeilnehmerInnen verlässlich im Mittelpunkt blieben.
Die Mehrzahl meiner StudentInnen kam mit diesem im klassischen Lehrbetrieb eher unkonventionellen Ansatz sehr gut zurecht – und die anderen konnte ich ebenfalls abholen, nachdem ich selbst gelernt hatte, sie im Vorfeld besser auf dieses unerwartete Experiment einzustimmen.
Was bleibt?
Die Non Formal Education ist neben Elementen anderer Methodiken ein unverzichtbarer Teil meiner Arbeit geworden. Sie hat mich gelehrt, die Welt aus anderen Perspektiven zu sehen und „Gegen-den-Strom“-Ansätze zu wagen und durchzusetzen, selbst wenn der Widerstand klassischer Strukturen einschüchternd groß erscheint. Im Gewirr der unterschiedlichsten Bedürfnisse finden sich immer wieder Lücken, die ich experimentell, konstruktiv und selbst lernend bespielen kann. Mit Vertrauen, Mut und Zuversicht.