Geschichte 2

Wie ich das Scheitern zu meinem Prinzip machte

Vom Versager zum Langzeitstudenten zum Lehrauftrag: über einen holprigen, kämpferischen und unnötig langen Weg rein in ein anderes Verständnis von Lernen und Lehren.

Schule war für mich der reinste Horror. Angekommen in einer gymnasialen Oberstufe einer Kleinstadt im Nordschwarzwald hatte ich als Republikflüchtling aus der DDR bereits eine beachtliche Schulkarriere hinter mir: Erste Klasse im seinerzeit sozialistischen Leipzig, zweite Klasse als Mauerflüchtling in Berlin-Schöneberg, den Rest der Grundschule in einer Sozialtrabantenstadt in Süd-Neukölln und danach zunächst für das erste Gymnasialjahr auf die mir absolut fremde Schwäbische Alb. Hier nun im Schwarzwald sprachen Lehrer und Mitschüler zumindest ein Deutsch, dass ich halbwegs verstehen konnte. Mitreden: unmöglich.

Vom ersten Tage an verkroch ich mich in die hinterste Ecke des Klassenzimmers, schaute aus dem Fenster und träumte vor mich hin. Es kam mir sogar zugute, dass mich unser fies-rassistischer Mathe- und Klassenlehrer alter Schule demonstrativ übersah, sofern er nicht einen dämlichen Spruch auf Lager hatte, der zuweilen auch auf meine Kosten ging.

Mit der Zeit legte ich mir eine harte Schale zu, rundherum um meinen sehr verletzlichen Kern. Erst noch in beklemmender Schüchternheit wurde sie später zum Netz aus raffinierten Vermeidungsstrategien und noch später zu Gleichgültigkeit und konstruktiver Rebellion. All dies legten mir Schule wie Familie einträchtig als (Originalzitat): ’stinkende Faulheit‘ aus.

Das traf mich zwar ins Mark, aber irgendwann hörte ich nicht mehr hin. Stattdessen liess mich dieses Leid und meine unglaubliche Neugier aufs Leben ganz intuitiv einen anderen Ansatz für mein Selbstbild entwickeln. Überlebensstrategie? Vielleicht.

Die Substanz meiner täglichen Schul-Fensterträume konnte ich in diesem Alter und zu diesem Zeitpunkt noch nicht erfassen – wohl aber spürte ich, dass mir meine Talente selbst unter widrigsten Umständen zur eigenständigen persönlichen Entfaltung hilfreich sein könnten. Bereits mit neun Lebensjahren hatte ich begonnen Zeitung zu lesen. Verschlang förmlich all die prickelnden Informationen, die sich auf Welt-, Regional- und Kulturteile der grossen knisternden Papierseiten versammelten. Wenn ich am Ende der letzten Seite angelangt war, blätterte ich rückwärts in der Hoffnung, einen Artikel übersehen zu haben. Welch eine Wohltat, wenn ich mit meiner Familie in anderen Haushalten zu Besuch war und dort in weiteren Zeitungsausgaben stöbern konnte!

Meine Träume setzte ich dann in kleine spielerische Szenarien auf meiner Modelleisenbahn um, die im Keller unseres Hauses immer grössere Ausmasse annahm. Und ich nutzte unseren alljährlichen unsäglichen Familienurlaub, um meine Perspektiven auf die Welt zu schärfen und zu erkennen, dass das Reisen von nun an essentiell für mein Leben sein sollte. Nicht als Tourist, sondern als aufmerksam Lernender.

Eines Tages nahm ich dann all meinen Mut zusammen, ging mit meiner kümmerlichen Aura des örtlichen Tierarztsohnes (was seinerzeit ein gesellschaftlich höchst anerkannter Stand war) zu unserer Kleinstadt-Zeitung und bot ihnen meine Schreibkünste an. Diese hatten sich mit den Jahren insgeheim prächtig entwickelt, weniger zum Nutzen der Schule (die sich dafür kaum interessierte), sondern als Ausweg aus meiner immer noch existierenden unglaublichen Schüchternheit, welche die meisten alltäglichen Begegnungen weiterhin blockierte.

Nachdem ich den ersten Artikel über die prekäre Situation der Jugendarbeit in meiner Kleinstadt veröffentlicht hatte, war kein Halten mehr. Mein gesamtes Umfeld interessierte sich plötzlich für meine Argumente, und es blieb mir nichts anderes übrig, als offen und irgendwann auch souveräner mit diesen Menschen zu diskutieren. Während meine ersten Schritte als Jungjournalist noch von idealistischem Sendungsbewusstsein geprägt waren, entdeckte ich mit der Zeit mehr und mehr meine diebische Neugier auf die komplexen Strukturen dahinter. Und begann im Zuge der textbegleitenden Fotos, die ich ebenfalls eigenständig während der Zeitungsaufträge schoss, den künstlerischen Raum mit all seinen Ausdrucksmitteln zu erforschen. Hangelte mich von Kleintierzüchterverein und Schützenfesten zu Karnevalssitzungen und Lokalpolitik. Und dokumentierte parallel dazu in Bild und Text auch den Alltag meiner Schule, schrieb und fotografierte für die Schülerzeitung und wurde folgerichtig Chefredakteur unserer Abiturszeitung. Mein erstes, eigenes und richtiges Projekt, das ich zu verantworten hatte. Und meine erste Gelegenheit, all die in der schüchternen Einsamkeit aufgestauten Beobachtungen, Erfahrungen, Einsichten und Ausblicke in echte Entscheidungen zu formen. Was für ein Finale!

Doch zunächst standen Abitur und seine Prüfungen wie ein unüberwindbarer Berg vor mir. Als direkte Folge der Eskapaden des rassistischen Mathelehrers hatte ich mich bereits ab der zehnten Klasse komplett vom Unterrichtsstoff verabschiedet – der Dreisatz ist bis heute die einzige Rechenart, die ich souverän beherrsche. Alles andere vermisse ich aber auch nicht. Auch Sportunterricht und selbst meine geliebte Deutschklasse schwänzte ich in immer längeren rhythmischen Abständen, die zwar noch eine Regelmässigkeit erkennen liessen, aber eben auch nicht mehr. Mein Deutschlehrer war so eingenommen von meinem journalistischen Engagement, dass er es gerne durchgehen liess. Dafür, dass er an dieser Stelle nichts tat, um mein Talent dennoch zu fördern, bin ich ihm bis heute aufrichtig dankbar. Und alle anderen Lehrkräfte taten auch nichts, aus purer Ignoranz.

Als Chefredakteur hatte ich meinen Sozialaufstieg vom Versager ins Aufmerksamkeitszentrum unserer Schule so gut gemeistert, dass sich meine ehemaligen MitschülerInnen heute auf Klassentreffen partout nicht mehr an meine lange entbehrungsreiche Zeit davor erinnern mögen. Das Abitur selbst bestand ich mit Ach und Krach. Auch dank meines neuen Oberstufen-Mathelehrers, der in der Prüfungskommission für meinen Versuch, eine Funktion mit aneinandergereihten Dreisätzen zu lösen, einen einzigen Punkt durchsetzte. Dass er mich die zwei Jahre zuvor auch schon in Ruhe gelassen hatte, rechne ich ihm hoch an.

Meine tiefe Verwurzelung in der praktischen journalistischen Arbeit und mein Fokus auf die Belange der Basis von Gemeinschaften machten mir das anschliessende (Über-)Leben an der Universität nicht gerade leichter. Um meinem journalistischen Eifer eine sinnvolle Grundlage zu geben, hatte ich beschlossen, Politikwissenschaften und Germanistik zu studieren. Was dazu führte, dass ich stets die spannendsten Lehrveranstaltungen besuchte, die ich finden konnte – ein solcher Weg aber in keinem der vorgegebenen Lehrpläne vorgesehen war. Ohne Scheine und ohne gültige Zwischenprüfung besuchte ich zwar längst aktiv beitragend die besten Veranstaltungen des Hauptstudiums, wurde so aber automatisch zum Langzeitstudenten. Und damit irgendwann hinausgeworfen.

Schimpf und Schande begründeten dann meine Existenz als Künstler. In meiner Not nahm ich die Fotografie zum Anlass und erforschte fortan kreativ alle gesellschaftlichen und auch sexuellen Abgründe der Menschheit. Immer mehr schärfte sich dabei mein Fokus auf die beiden Begrifflichkeiten von Macht und Lust, welche mich bis heute nicht mehr losgelassen haben. Beide als Stimulanzien und Antrieb für Neugier, Engagement und Innovation – aber auch für Missgunst, Rivalität und Kriege. Verarbeitete dies zu Ausstellungen im In- und Ausland.

Da brotlose Kunst eben brotlose Kunst ist, rutsche ich immer weiter in die kommerzielle Fotografie, liess mich als Assistent in Paris zum Mode- und Werbefotografen ausbilden, arbeitete auch einige Jahre in London und landete nach vielen entbehrungsreichen Jahren bei Fashionweek und Berlinale Filmfestival. Ähnlicher Status wie damals als Chefredakteur der Abizeitung, aber eben auch mit dem Gefühl: da geht noch mehr! Und vor allem anders.

Der forschende Umgang mit Macht und Lust hatte mich eines gelehrt: nichts ist von Dauer. Sah den Protagonisten der Berliner Fashionweek mit neugierigem Erstaunen dabei zu, wie sie ihren hippen Karren in Größenwahn an die Wand fuhren. Versuchte zu verstehen, wie die Mechanismen des krachenden Scheiterns funktionieren und glich meine Erkenntnisse dann in der weit höheren Liga des Filmfestivals nochmals präziser ab.

Gleichzeitig wurde ich ganz unerwartet von jener Universität, die mich seinerzeit als Langzeitstudenten hinausgeworfen hatte, zu einem Lehrauftrag eingeladen. Sollte mit Medien- und Projektmanagementmethoden den dortigen AbschlusskandidatInnen den raschen Einstieg ins Berufsleben schmackhaft machen – was mir in Zusammenarbeit mit meinen beiden wunderbaren KollegInnen auch gelang. Zurückgreifen konnte ich dabei auf meine Erfahrungen als Mitglied des ersten Berliner Co-Working-Spaces, der sich seinerzeit noch wahres ‚Miteinander-Arbeiten‘ verstand und nicht nur als zweckmässige Bürogemeinschaft. Denn hier trafen sich Kreative aller Disziplinen und werkelten ergebnisoffen an unterschiedlichsten, meist intuitiv entstandenen Projekten. In wirklich hierarchiefreien Räumen, in denen wir die Vorzüge von Liquid Leadership, produktivem Scheitern und gelebter Interdisziplinarität an uns selbst trainierten. Diese Denkschule brachte uns irgendwann viel mediale Aufmerksamkeit und Kooperationen mit Innovationsabteilungen von Hochschulen, Think-Tanks sowie dem Guggenheim-Museum ein. ( → siehe auch Projektbeispiel 6: Rettet Design Thinking die Welt?)

Zurück zum Lehrauftrag: unsere StudentInnen waren wenig motiviert, in der letzten Phase ihrer Ausbildung auch noch zwei wertvolle Wochenenden in die Produktion von kleinen Videoclips mit dem Handy zu investieren. Keiner hatte ihnen gesagt, dass es uns hier nicht nur darum ging, einen obligatorischen Teilnahmeschein zur Berufsvorbereitung zu erwerben, sondern ihren eigenen Weg mittels eines Medienprojekts und verschiedener Projektmanagementmethoden einordnen und hinterfragen zu lernen. Da die Unlust weit grösser war als von mir erwartet, wagte ich ein Experiment: als einziger aus unserem Lehrkräfte-Team bot ich allen TeilnehmerInnen an, ihnen das Zertifikat an Ort und Stelle sofort mit Höchstbenotung auszustellen, egal ob sie weiterhin kommen würden oder nicht. Einzige Bedingung war, dass sie den ersten Tag mit uns komplett absolvierten.

Nach der üblichen Kennenlern-Runde, die wir mit einem lustigen Spiel starteten, wollte ich von ihnen wissen, warum jede(r) einzelne überhaupt das studierte, was sie oder er studierte. Ratlosigkeit machte sich breit. Die angehenden LehrerInnen, TheaterwissenschaftlerInnen und GermanistInnen hatten „Keine Ahnung“, oder sie erinnerten sich vage: „Das wollten meine Eltern so“. Ansonsten rotierte das Klischeekarussell: „Da bin ich dann beamtet“ oder „Verdiene viel Geld damit“. Interesse, Neugier und Leidenschaft erwähnte keine(r). Ein guter Grund, jetzt einmal darüber zu sprechen.

Grosses Staunen, Skepsis, Stille. Mit Elementen von Non Formal Education ( → siehe auch Projektbeispiel 09: Good Governance immer nur für andere?) und Design-Thinking, letztere eine Projektmanagement-Methode einst dafür entwickelt, Kreativität in wirtschaftliche Innovationsprozesse einzubringen, machten wir mit- und aneinander diese absolute Sinnfrage sicht- und spürbar. Lebensnah. Und schlugen ihnen vor, das Berufsvorbereitungs-Seminar genau in diesem Sinne unter unserer tatkräftigen Anleitung produktiv zu nutzen. Was letztlich dazu führte, dass uns keine(r) von der Stange ging. Ganz im Gegenteil.

Wir trugen den StudentInnen auf, ausschliesslich reale Themen aus ihrem Leben zum Gegenstand ihrer Videoclips zu machen. Simulation war nicht erlaubt, damit sie mit ihren Arbeitsergebnisssen gleich weiter arbeiten könnten. Abermals Ratlosigkeit, die sich mit entsprechender Recherche aber schnell in Einsicht und Erleichterung auflöste. Von nun an begaben sie sich mit einer solch erfrischenden Lust und Freude in ihre Projekte, dass sie nicht nur an diesem Wochenende die Zeit vergassen.

Verschiedenste Recherche-, Produktions-, Iterations- und Validierungstechniken steuerten unseren aufregenden Prozess des Gestaltens, des Entscheidens, der Reflektion, des produktiven Scheiterns, des daraus Lernens und der hierarchiefreien Kooperation miteinander. Wir suchten, diskutierten, testeten und rangen schliesslich gemeinsam um die besten Lösungen. Eigentlich unnötig zu erwähnen, dass die Videoclips dementsprechend vielfältig und einfach überwältigend ausfielen – denn der Weg war hier das eigentliche Ziel.

Und das Beste überhaupt, für mich?

Nach zwanzig Jahren des Scheiterns als Langzeitstudent an genau diesem Ort in genau dieser Universität stellten deren Professoren erst nach Ende des Seminars fest, dass ich gar keinen Abschluss in ihrem Sinne vorweisen konnte. Und beschäftigten mich dennoch oder gerade deswegen für zwei weitere Semester.

Ausser meinem persönlichen Triumph – was sagt mir das?

Unser Bildungssystem, so wie es ist, war niemals meins. Starre Lehrpläne und Leistungsdruck mögen für manche Persönlichkeitsstrukturen hilfreich sein – für mich und viele andere sind sie es nicht. Die Frage von Motivation, Wahrhaftigkeit, Neugier und Leidenschaft wird für mich immer an erster Stelle stehen und darüber entscheiden, ob und wie weit ich mich mit einem Thema beschäftige. In meiner Arbeit habe ich erfahren dürfen, dass ich damit nicht alleine bin. Ganz im Gegenteil: die Gruppe derer, die sich einen anderen Ansatz wünschen, ist erstaunlich gross.

Und ich bin tatsächlich der Auffassung, dass es grundlegende Aufgabe von allen Lehrkräften ist ihr Angebot so zu gestalten, dass niemand zurückgelassen wird. Niemand. Sollen wir etwa auf Talente verzichten, nur weil’s vielleicht nicht in unsere gängigen Muster passt?

Habe meinen Ansatz später auch in Medienworkshops mit sozial auffälligen JSchülerInnen einer Sonder-Werkschule in Berlin-Neukölln testen dürfen. Soll ja keiner sagen, dass Innovation nur für die Bildungselite reserviert ist. Und selbst straffällige Jugendliche am Ende nur nach Anerkennung, Liebe und Zukunft streben. Wie wir alle.

Könnte angesichts der zunehmend asymmetrischen Globalisierung und des latenten Fachkräftemangels ein anderes Verständnis von Lernen und Lehren für uns alle bereichernd sein?

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