Geschichte 5
Aufbau einer Deutschklasse für künftige Fachkräfte
Wie es gelingen kann, abseits vom Goethe-Institut und ausgetretenen DaZ- und DaF-Pfaden einen lustvollen und praxisorientierten Deutschunterricht zu denken
Bin schon eine ganze Weile unterwegs in Myanmar. Von Jahr zu Jahr hangele ich mich von Erkenntnis zu Erkenntnis, knüpfe mein wertvolles Netz aus Kontakten. Beobachte, lerne, scheitere, lerne wieder und nehme neue Anläufe. Einer dieser Anläufe führt mich zu einer Kloster-Highschool in Mandalay, in der zweitgrössten Metropole des Landes. Damals eine recht beschauliche Großstadt noch ohne die später auch hier üblichen Shoppingcenter und Karaokeclubs.
Treffe auf einen US-Amerikaner, der mich in mancherlei Hinsicht burmesischer vorkommt als mancher Burmese. Er trägt Longyi, den traditionellen Wickelrock aus wunderschönen Stoffen, spricht fliessend Burmesisch und bewegt sich so souverän durch die Strassen des Viertels, dass man doch glatt seine weisse Haut übersehen könnte. Als Halbburmesen, der ich ja von Geburt aus bin, beeindruckt mich das. Und macht mich zugegebenermassen auch ein klein wenig neidisch. Denn immer wenn ich in Myanmar bin bemerke ich, wie deutsch ich eigentlich bin. Mit meinen Perspektiven, mit meinen Vorurteilen – aber auch mit meiner Klarheit und meiner Entschiedenheit.
Der Amerikaner führt mich ein in eine buddhistische Kloster-Highschool, die mir vorkommt wie ein umtriebiges Labyrinth. Mehrere Hundert junge und alte Mönche, Kinder und Lehrer in Schuluniformen und auch ganz normale Zivilisten wuseln hier auf einem Gelände herum, das kaum größer ist als das Vorfeld des Berliner Alexanderplatz.
Augenscheinlich wohnen viele von ihnen auch hier – in den zwei- und dreigeschossigen Gebäuden, die wie eine Perlschnur rechts und links der Klostergasse aneinander gereiht sind. Die Gasse selbst ist der Boulevard für freundschaftliche Grüße und Scherze, für konzentriert vor sich hin murmelnde Schülerinnen und Schüler kurz vor der Prüfung, für fliegende Händler mit kleinen Snacks und ehrwürdige Mönche anderer Klöster des Landes auf Besuch.
Meine Augen sind überfordert, aber meine Neugier ist geweckt.
So schnell wie er erschienen ist, so schnell ist er auch wieder entschwunden im Gewimmel der Leute und seiner Aufgaben als Lehrer hier, der Amerikaner. Muss mich also selbst durchschlagen, was ich in den folgenden Tagen, Wochen und auch Jahren tue. Je öfter ich an diesem wundersamen Ort verweile, desto klarer erschliesst sich mir dessen Rhythmus, dessen Aufbau, dessen Leben.
An der Spitze des Klosters, welches im Gegansatz zu anderen Klöstern mit spirituellem Auftrag eher eines ist, das vorrangig Bildung anbietet, steht der Abt. Ein Mann mit höchster Integrität, aber auch einer, der sein engstes familiäres Umfeld zu fördern weiss. Das sichert Loyalität – und ganz nüchtern betrachtet: es hält den unübersichtlichen Laden tatsächlich zusammen.
Drumherum gliedern sich wie konzentrische Kreisen die verschiedensten Projekte: eine Grundschule nach traditionellem burmesischen Muster für Zivilisten und kleine Mönche, deren Familien sich nicht einmal die Schulbücher leisten können und ihre Liebsten daher in den Orden gegeben haben. Eine traditionelle, weiterführende Highschool und auch eine fortschrittliche, welche von überwiegend westlichen NGOs materiell wie auch inhaltlich gesponsort wird. Hinzu kommt eine klostereigene Klinik, in der weltliche Ärzte werktäglich einige ihrer Arbeitsstunden dem Kloster spenden: Montags der Zahnarzt, Dienstags der Allgemeinmediziner, Mittwochs der Frauenarzt undsoweiter undsofort. Damit bekommen hier auch jene Menschen Versorgung, die sich eine Privatklinik nicht leisten können.
Und dann sind da auf dem Klostergelände auch noch verschiedenste Werkstätten, einst angestossen von UN-Projekten oder Privatinitiativen aus Europa, Amerika oder Australien. Nun meist in den Händen der Verwandtschaft des Abtes: eine Schreinerei, eine Näherei, eine Metallwerkstatt, verschiedene Garküchen und kleinere Krämerlädchen. Und als Flagship-Projekte zwei konkurrierende deutsche Vereine aus derselben deutschen Stadt, die mit ihren sehr ähnlichen Unterstützungsprogrammen um die Wette laufen. Der eine von ihnen betreibt zusammen mit dem Kloster eine hervorragend ausgestattete touristische Ausbildungsstätte draussen auf dem Land, welche mangels Lizenz leider noch keine Gäste empfangen darf. Der andere Verein hat einen beachtlichen Studiengang auf die Beine gestellt, mit dem junge Talente ins Tourismuswesen eingearbeitet werden. Und beide Vereine bieten hier und da mal sporadische Deutschkurse an, wenn denn junge muttersprachliche Volunteers vor Ort sind. Und sie vermitteln zuweilen ihre besten Studenten für kurze Auslandsaufenthalte im Saarland.
Ich entscheide mich für den Verein mit dem Tourismusstudiengang und beginne dort Deutsch und Englisch zu unterrichten. Mein Versuch, hierbei mit dem Sprachinstitut der Universität von Mandalay zu kooperieren scheitert schon daran, dass dort keine Muttersprachler unterrichten und sie wohl deshalb die klösterliche Konkurrenz fürchten. Auch das vielfältige Angebot des Goethe-Instituts im von hier aus sehr fernen Yangon ist eher für die wohlhabende Klientel gestrickt. Bleibt mir also gar nichts anderes übrig als selbst etwas Vernünftiges auf die Beine stellen.
Mein mittlerweile geschärfter Blick auf die myanmarische Gesellschaft lässt mich ein sorgfältig ausbalanciertes Konstrukt erschaffen: ich fädele ein kurzes informelles Treffen zwischen dem Abt unseres Klosters und meiner Familie in Mandalay ein. Somit wird für die Klosterschule klar, dass mein familiärer Hintergrund respektabel ist – und meine Familie kann darauf bauen, dass ich mit allerhöchstem Segen unterwegs bin. Von da an geniesse ich vertrauensvolle Handlungsfreiheit auf allen Seiten.
Bei meinen Recherchen stosse ich auf das wunderbare MyMe-Project, das in Yangon mit Klassenzimmern in Bussen und auf LKWs mobil Strassenkinder beschult, die zu allermeist in den unzähligen kleinen Teashops der Stadtränder arbeiten. Das Projekt wurde von einem Exilburmesen ins Leben gerufen, der als Banker in New York zu Wohlstand gekommen ist, zum Demokratiestart in Myanmar dann alles verkauft hat und seine Mittel nun in solche Projekte investiert.
Herzstück von MyMe ist das Konzept der ‚Non-formal Education‘ – einem Ansatz, der den klassischen Lehrplan komplett ausser Acht lässt und stattdessen die Lebenswirklichkeit und echten Bedürfnisse der betreffenden Schülerinnen und Schüler in den Mittelpunkt rückt. Eine Idee, die mich von da an nicht mehr loslässt. (mehr hierzu in Projektbeispiel 8: Good Governance – immer nur für andere?)
Davon inspiriert stelle ich zunächst meinen Deutschunterricht völlig auf den Kopf. Besorge mir in Deutschland Materialien, von denen ich glaube, dass sie hierfür nützlich sein könnten. Beispielsweise kleine runde Buchstabenstempel aus Holz, mit denen ich in den Kinderklassen spielerisch Wörter stempeln lassen möchte. Auch Holzspielzeug kommt mit in den Koffer: die Ausstattung einer Puppenküche, Brot-, Obst- und Gemüseatrappen sowie eine komplette Holzpizza mit Belägen. Aus der gängigen Deutsch-als-Zweitsprache- und Deutsch-als-Fremdsprache-Literatur kopiere ich die sinnvollen Übungselemente heraus und laminiere sie ein, damit man sie später in Übungseinheiten abwischbar beschriften kann. Und ich kaufe zwei Dutzend Mini-Whiteboards, um diese während des Unterrichts flexibel mit den SchülerInnen nutzen zu können. So kommt nach und nach ein Lehrmaterialien-Koffer zusammmen, den ich von nun an vor jeder Unterrichtsstunde über den Klosterboulevard ziehe.
Weil vor allem die kleinen Novizen aufgrund ihrer religiösen Pflichten kaum reguläre Stundenpläne einhalten können, erweitern wir die Unterrichtszeit einfach auf den Zeitraum von acht bis 14 Uhr – und da mittlerweile meine 17-jährige Tochter mit hinzugestossen ist, lösen wir uns im Unterrichten einfach freestylemässig zwischendurch immer wieder gegenseitig ab. Den Schülern stellen wir frei, zu kommen und zu gehen wann sie wollen. Wiederholen alle Lerneinheiten fortwährend und unterstützen sie dabei, schwarmintelligente Wege zu finden, auch Fehlzeiten gemeinsam auszugleichen. Abends biete ich dann noch ein vertieftes Studium für all jene an, die sich intensiver mit der deutschen Sprache auseinandersetzen möchten.
Wir spielen Alltag in Myanmar, wir spielen Alltag in Deutschland. Vergleichen die Lebensumstände, schauen deutsche Filme in zehn-Minuten-Etappen und sprechen über das Gesehene, verbinden ganz unbeschwert interkulturelle Landeskunde mit den oft lustigen Tücken der deutschen Sprache. Auf Grammatik und Schreibübungen verzichten wir völlig – uns geht es zunächst darum, unseren Schülern und Studenten ein Gefühl für die ihnen fremde Kultur zu vermitteln. Sehen uns eher als Botschafter denn als Lehrkräfte, und lernen auch selbst jeden Tag kräftig hinzu.
Die Kinderstempel spielen dabei eine unerwartete Rolle: gleich einem Scrabblespiel entstehen von ganz alleine kleine Rate-Teams von drei bis fünf Leuten, die bei Unklarheiten die kleinen Holzklötzchen zum gewünschten Wort zusammenfügen. Hier wird gekichert, bei anderen Gruppen abgeschaut, Buchstaben werden umgestellt, hinausgeworfen oder hinzugefügt. Wir schauen uns am grossen Tisch (an dem wir übrigens immer in einem grossen Kreis sitzen) dann gemeinsam die Ergebnisse an und sprechen darüber, warum ‚Bären‘ nicht ‚Beeren‘ ist.
Apropos Umlaute: die sind eindeutig die grösste Herausforderung für viel Deutschlerner. Das ‚Ãœ‘ beispielsweise gibt es als Laut in der burmesischen Sprache einfach nicht. Und damit auch keine Idee davon, wie den Mund zu formen währenddessen. Weil wir feststellen, dass an dieser Stelle manche unbefangener und andere wieder weniger selbstbewusst damit umgehen können, entwickeln wir hierfür eine spezielle Lehrtaktik, die eigentlich wie eine klassische aber hier sehr kurze Nachhilfestunde funktioniert.
Da wir ja im Tandem unterrichten, zieht eine(r) von uns all diejenigen mit aktuellen Ausspracheschwierigkeiten für zehn Minuten aus der Gruppe heraus und trainiert ganz fokussiert – in diesem Falle das ‚Ãœ‘.
Weil die Nachhilfekandidaten nach Rückkehr in die Gruppe das ‚Ãœ‘ in aller Regel besser beherrschen als die anderen, empfinden sie diese Prozedur auch nicht als Schmach, sondern als exklusives Privileg. Was dazu führt, dass sich der eine oder andere ganz freiwillig der temporären Nachhilfetruppe anschliesst.
Zur Auflockerung und Verbesserung der Aussprache entwickeln wir gemeinsam Bewegungsspiele im stehenden Kreis, die zwischendurch immer wieder Schwung, Spaß und Energie in die Klasse bringen. Für Schüler und Studenten, die ausschliesslich Frontalunterricht gewohnt sind, eröffnet dies ganz neue Freiheiten und Ausdrucksmöglichkeiten. Hierfür verändern wir auch täglich das klassische Sitzlayout in unseren Tischkreis plus unsere Freispielfläche. Es wird eine wahre Freude unseren Schülern dabei zuzuschauen, wie sie stets zum Beginn unseres Unterrichts die klassischen Tisch- und Stuhlreihen zerstören, um sie am Ende weit weniger lustvoll wieder in die gewohnte Ordnung zu fügen. Ein Ritual unter vielen, die wir miteinander entwickeln.
Ein weiteres wichtiges Element unseres Lehrens wird die Verknüfung zwischen Analogem und Digitalen. Weil wir ja nicht wie in Deutschland üblich auf Lehrbuchexemplare oder ungezählte Fotokopien zurückgreifen können, integrieren wir einfach die frei verfügbare Spachlern-App Duolingo in unseren Unterricht. Im digitalen Raum können unsere Schüler alle Fähigkeiten eigenständig anwenden, die sie kurz zuvor offline gelernt haben. Und für all jene, die sich ein Mobiltelefon nicht leisten können, organisieren wir ausrangierte Geräte aus Deutschland.
Unser bester Schüler kann damit bereits nach einem halben Jahr fliessend einfache Konversationen führen.
Mit all diesen Erfahrungen wagen wir uns bald auf die nächste Stufe des Deutschunterricht-Projekts: der Beschulung von Kranken- und Pflegekräften unserer Klosterklinik, die damit eine Chance auf eine Ausbildung und Praxisjahre im Deutschland bekommen könnten. Aus dem Stand heraus können wir das gesamte Klinikpersonal davon überzeugen, zweimal wöchentlich ihre Mittagspause zu opfern und stattdessen auf gedankliche und fachsprachliche Reise nach Deutschland zu gehen. Trotz oder vielleicht auch gerade wegen dieses komprimierten Ansatzes schafft es noch vor Ausbruch der Coronapandemie einer von ihnen tatsächlich zum Ausbildungsantritt an einer deutschen Klinik.
Die Pandemie und der darauf folgende Bürgerkrieg in Myanmar haben die Fortsetzung unseres Sprachprogramms bis auf Weiteres unmöglich gemacht. Die Erfahrungen und Erkenntnisse aus diesem Projekt bleiben aber bestehen – und werden in all meinen anderen Projekten so lange weiter entwickelt, bis sie auch dort wieder ihren Platz finden können.
Ein Wort noch zur berechtigten Kritik an der Abwerbung von talentierten und qualifizierten Fachkräften aus Ländern ausserhalb der Europäischen Union:
Ja, im ungünstigsten Fall schwächt der sogenannt Brain-Drain die Gesellschaften der Herkunftsländer. Das Beispiel Myanmars der vergangenen Jahrzehnte hat aber auch gezeigt, dass allenfalls die Hälfte aller Auswanderer tatsächlich in der Fremde geblieben ist und auch diese zu unverzichtbaren Botschaftern zwischen den Kulturen heranwuchsen. Und manch einer von ihnen kehrte professionell und wirtschaftlich gestärkt zurück, als die demokratische Periode anbrach. Auch in Zukunft wieder darauf zu setzen, könnte sich lohnen.
Mein Fazit, bis dahin?
Interkulturelle Integration geht mit einem möglichst optimalen Spracherwerb einher. Nutzerorientiert dafür zu sorgen, könnte die vorrangige Mission von Deutschkursen sein. Tools wie Prototyping oder Non-formal Education sowie die Entwicklungsoffenheit und eine Flexibilität der Methoden könnte vermutlich noch weit mehr bewirken als wir mit diesem Projekt erfahren und zeigen konnten. Mich hat es darin bestärkt, in Zukunft noch weiter ‚Out of the Box‘ zu denken und Angebote zu erarbeiten, die man nur schwer ablehnen mag.